Ein Gespräch mit Dr. Alain Pfouga
Zum ersten Mal nach über zwei Jahren Pandemie fand Anfang Juni das prostep ivip Symposium wieder als Präsenzveranstaltung statt. Im Gespräch erläutert Geschäftsführer Dr. Alain Pfouga, warum die Veranstaltung wieder so erfolgreich war, welche Bedeutung das persönliche Treffen für die Community hat, und welche strategischen Veränderungen in Stuttgart auf die Schiene gesetzt wurden.
Ulrich Sendler: Herr Dr. Pfouga, fangen wir mit den nackten Zahlen an: Was war am 8. und 9. Juni im ICS in Stuttgart los?
Dr. Alain Pfouga: Mit 520 Teilnehmern waren wir angesichts des in die Pfingstferien verlegten Termins mit dem Ergebnis unseres 25-jährigen Jubiläums mehr als zufrieden. Veranstalter anderer Events, die zum ersten Mal nach der Covid-Pause wieder eingeladen hatten und auch unsere Teilnehmer haben uns dies bestätigt. Der Anteil der internationalen Teilnehmer war so hoch, wie wir das aus der Vergangenheit gewohnt sind. Gut besuchte 46 Vorträge mit insgesamt 95 Referenten in drei parallelen Sessions, vier komplett ausgebuchte Workshops und 35 Aussteller – diese Zahlen unterscheiden sich nicht von denen der letzten physischen Erfolgsveranstaltung vor drei Jahren.
Ulrich Sendler: Es war keine – auch nicht teilweise – hybride Konferenz. War das die richtige Entscheidung?
Dr. Alain Pfouga: Unbedingt! Es war uns sehr klar, dass für unsere Community das persönliche Treffen so vieler Experten und Entscheidungsträger aus Industrie, IT und Forschung höchste Bedeutung hat. Das bekommen sie eben nur bei uns geboten. Es lag uns sehr viel daran, genau diesen Charakter der Veranstaltung wieder zu beleben. Neben dieser allgemeinen Begründung ist aber auch wahr: Es war noch nie so wichtig wie derzeit, sich so intensiv wie möglich auszutauschen. Nicht wegen der Pandemie und ihrer Folgen, sondern weil sich die Industrie in einer Transformation befindet, die kein Unternehmen und keine Branche allein umsetzen kann.
Ich nenne nur neue Aspekte wie Elektromobilität und die Rolle der Software im Produkt, die durch Nachhaltigkeit, Digitalisierung oder neue Markt- und Kundenbedarfe getrieben sind. Die Erfahrungen anderer waren vielleicht noch nie so wertvoll wie gerade jetzt. Denn fast jeder nimmt einen anderen Startpunkt und Weg für seine Transformation.
Ulrich Sendler: Was genau ist denn der Unterschied, den der prostep ivip Verein derzeit in der Industrie ausgemacht hat?
Dr. Alain Pfouga: In den letzten 30 Jahren haben wir uns dafür stark gemacht, Methoden- und Prozessexzellenz im Produktentstehungsprozess mittels Standardisierung, Digitalisierung und Softwareunterstützung auf eine breite industriellen Basis zu stellen. Im Engineering, in der Produktion, im Vertrieb, in der Wartung – für jeden Schritt über den ganzen Lebenszyklus von Produkten.
Jetzt erleben wir, dass die Produkte selbst digitaler werden und neue, datengetriebene Geschäftsmodelle ermöglichen. Die in ihnen verbaute Software wird immer wichtiger für die Nutzung und den Wert der Produkte. Das erfordert ein komplettes Umdenken, weil die traditionelle Betrachtung der Unternehmensarchitektur den Anforderungen einer Welt von Systems of Systems und Produkt-Plattformen nicht mehr genügt. Nehmen Sie CARIAD bei Volkswagen oder die Wiedereingliederung von Softwarekompetenzen bei zahlreichen OEMs – um nur die Entwicklungen bei Automobilherstellern herauszugreifen – die Unternehmen haben erkannt, dass die Softwareentwicklung für ihre Produkte unbedingt zur Kernkompetenz in ihren Häusern gehört. Und das gilt nicht nur für Automotive.
Übrigens haben wir während des Symposiums den Startschuss für einen prostep Circle of Excellence gegeben. Er soll den Unternehmen auf C-Level-Ebene helfen, den stattfindenden Wandel zu verstehen und sich über notwendige Maßnahmen auszutauschen. Dieser Wandel ist so tiefgreifend, dass wir im Vereinsvorstand eine strategische Diskussion angestoßen haben, um den Paradigmenwechsel zu reflektieren, den die industrielle, digitale Transformation für prostep ivip mit sich bringt. Wir haben anlässlich des Symposiums zwei wichtige Entscheidungen getroffen und ihre Umsetzung auf den Weg gebracht. Das eine ist die Erweiterung unserer Vereinsziele. Wir wollen unsere Vision der Digitalisierung schärfen und unsere Arbeit verstärkt auf Themen wie Software im Produkt, virtuelle Homologation und Systems und Data Engineering fokussieren. Gleichzeitig treiben wir die Internationalisierung voran, denn viele Themen können nicht lokal gelöst werden. Die zweite Entscheidung war die Erweiterung des Vorstands von vier auf sechs Mitglieder, um genau diese Neuausrichtung voranzutreiben. Für die Themen Software im Produkt und Systems Engineering wurde Thomas Kamla gewählt, der als Senior Direktor unmittelbar an den VW-Entwicklungsvorstand berichtet. Jens Poggenburg , Executive Vice President bei AVL, wurde zum neuen Vertreter der Automobilzulieferer im Vorstand gewählt und bringt viel Know-how auf den Gebieten der praktischen Anwendung modellbasierter Entwicklung und der Digitalisierung mit. Und für die Internationalisierung konnten wir Tomohiko Adachi von der Mazda Motor Corporation in Japan gewinnen.
Ulrich Sendler: Das sind in der Tat gravierende Entscheidungen. Tritt damit das Thema PLM, das ja bisher mehr oder weniger als Dachthema des Symposiums gelten konnte, künftig in den Hintergrund?
Dr. Alain Pfouga: PLM bleibt für unsere Mitglieder ein zentrales Thema. Es ist so etwas wie die Basis mit enormer Andockfähigkeit zu Themen, die wir noch stärker adressieren müssen. Wie können das V-Modell und die drei- bis vierjährigen Entwicklungszyklen in der Hardware mit den täglichen Zyklen agiler Softwareentwicklung zusammen funktionieren? Wie bringen wir die unterschiedlichen Expertisen zusammen? Oder nehmen Sie die Simulation: Ohne PLM und einen digitalen Zwilling des Produkts ist es nicht getan, um das Potenzial der virtuellen Simulation darzustellen.
Sind wir zum Beispiel schon so weit, dass wir Simulation dem Gesetzgeber auch als Methode für die Homologations-Zertifizierung empfehlen können? Wie funktioniert der Handshake aller Partner, die Harmonisierung der gesamten Wertschöpfungskette, wenn Simulation umfassend als Ersatz für Prototypen zum Zug kommt? Und noch ein Gedanke: Wie können wir die Menschen in der Industrie zu einer Art datengetriebenem Denken befähigen, ihnen helfen, Daten vom Produkt und aus den Prozessen so aufzubereiten, dass sie für analytische Zwecke oder für das Trainieren von KI-Systemen brauchbar sind? Da spielen PLM, Aspekte des digitalen Zwillings und MBSE hinein.
Die Hauptsponsoren des Symposiums, Contact Software und Mitsubishi Electric, haben in ihren Keynotes sowohl die KI als auch die Verbindung von PLM mit IT-Welten (IoT) betont. Und sie haben damit Punkte adressiert, die während der zwei Tage im Fachkongress an vielen Stellen immer wieder aufgetaucht sind.
Karl Heinz Zachries, Geschäftsführer eines der Hauptsponsoren, Contact Software (Foto prostep ivip e.V. / Ralf Kopp)
Ulrich Sendler: Sie schauen mit großer Begeisterung auf das wieder in Anwesenheit durchgeführte Symposium. Was haben Ihnen die Teilnehmer für ein Feedback gegeben?
Dr. Alain Pfouga: Es ist noch nicht alles im Detail ausgewertet, aber was ich schon kenne, sagt mir, dass etwa 95% beide Daumen oben hatten bei ihrer Bewertung. Für die Durchführung, für die Referate und Workshops, für die behandelten Themen. Und das bei unserer doch eher vorsichtigen Erwartungshaltung. Immerhin hatten wir einen ungünstigen Termin nehmen müssen. Und wie der Bruch aller Gewohnheiten durch die Pandemie sich auswirken würde, war ja auch keineswegs klar. Die überaus positive Resonanz war wirklich eine enorme Bestätigung.
Ulrich Sendler: Was plant der Verein für das Symposium 2023?
Dr. Alain Pfouga: Es wird am 3. und 4. Mai stattfinden, also wieder in unserer gewohnten Zeit. Das Motto wird demnächst auf unserer Homepage bekanntgegeben. Hauptsponsoren werden Volkswagen und Siemens sein. 2023 werden wir nochmals im ICS tagen. Neben einem Flughafen, mit genügend Hotelzimmern vor Ort und mit der Möglichkeit, auf bis zu 1.000 Teilnehmer zu skalieren.