Ein Gespräch über Gewinner und Verlierer von SARS-CoV-2
Interview mit Klaus Löckel, Managing Director Central Europe, Dassault Systèmes, am 22.7. in München-Riem
(Veröffentlicht auch in KEM Konstruktion)
Ulrich Sendler: Die Corona-Pandemie hat der Industrie drastisch gezeigt, wie wichtig die digitale Transformation ist. Was waren die Erfahrungen von Dassault Systèmes?
Klaus Löckel (Bilder Sendler): Unternehmen, die bereits digital unterwegs waren, hatten große Chancen, zu den Gewinnern zu gehören, und etliche haben diese Chance auch genutzt. Die Pandemie wirkt regional sehr unterschiedlich. Wer weltweit digital vernetzt ist, kann diese Unterschiede besser und effizienter für sich nutzen. So hat etwa ein Zulieferer der Automobilindustrie, der gleich zu Beginn besonders hart betroffen war, nach dem Abklingen der ersten Welle in Korea und China verstärkt auf die dortigen Entwicklungskapazitäten gesetzt. Unternehmen, die immer noch stark lokal gebunden sind, hatten es schwerer.
Es zeigte sich in allem: Remote Usage etwa, also Arbeiten von überall und auf einer einzigen digitalen Wahrheit, ist nicht nur für das Homeoffice wichtig. Es gibt die nötige Flexibilität, Ressourcen und Kapazitäten ganz anders zu nutzen und zu shiften. Wer die Digitalisierung nur für die Fortführung der alten Prozesse nutzt, hat wenig davon. Die Nutzung einer digitalen Plattform ist vor allem entscheidend, um neue Geschäftsmodelle zu entwickeln.
Gewinner waren Unternehmen wie beispielsweise CLAAS, die eine gut funktionierende Lieferkette haben. Der wichtigste KPI war die Anzahl an Fehlteilen. Und da haben diese Unternehmen fast nichts gemerkt von der Pandemie.
Ulrich Sendler: Welche wichtigsten Baustellen haben sich hinsichtlich der Digitalisierung herauskristallisiert?
Klaus Löckel: Die Cloud hat eine extreme Dynamik bekommen. Ohne sie fehlt die Infrastruktur für alles. Das beginnt beim Homeoffice. Wie sollte man das ohne Cloud-Anbindung für 18.000 Mitarbeiter organisieren, wie wir es gemacht haben?
Gleichzeitig bedeutet aber die global verteilte Cloud-Anbindung erhöhte Anforderungen an die Lokalisierung. Die Services müssen in Polen auf Polnisch funktionieren, Englisch reicht da nicht aus.
Ein anderes wichtiges Thema erhält bei Cloud-basiertem Arbeiten ebenfalls höchste Priorität: Die Regulierungen der Regierungen und Behörden müssen nun auch mit der Cloud vollständig erfüllt werden. Es gibt keine Fördergelder für eine klinische Studie, wenn der Datenschutz nicht absolut sicher ist, wenn nicht klar ist, dass auf keinerlei Daten außerhalb des jeweiligen Projektes zugegriffen werden kann. Erst recht nicht in anderen Ländern. Also haben wir neben Amazon Web Services, kurz AWS, und Huawei zusätzliche Host-Provider im Angebot. Und die vor drei Jahren erworbene Mehrheitsbeteiligung an Outscale liefert für uns und für Kunden bei Bedarf eine Private Cloud, um diesen Anforderungen gerecht zu werden.
Die Bedeutung der Cloud ist so drastisch gestiegen, dass wir nicht mehr nur Teile des Portfolios, sondern jetzt alles in der Cloud anbieten. Und gleichzeitig müssen wir etablierte Cloud-Plattformen nahtlos in die jeweils bestehende IT-Landschaft integrieren. Dassault Systèmes ist deshalb auch aktiv an Projekten wie dem europäischen GAIA-X beteiligt. Und wir haben für unsere Cloud die seit 2017 in der Automobilindustrie geforderte TISAX-Zertifizierung.
Ulrich Sendler: Oft ist die Rede davon, dass Corona zu einem regelrechten Digitalisierungsschub führt. Können Sie das bestätigen?
Klaus Löckel: Da sehe ich ein sehr heterogenes Bild. In der Breite gibt es eher keinen Schub. Im Gegenteil. Überall werden Budgets gestrichen und geschrumpft, und das gilt auch für Projekte der digitalen Transformation. Allerdings findet sich auch das Gegenteil: Gerade Firmen, die besonders harte Zeiten erleben, etwa in der Automobilbranche oder im Flugzeugbau, haben sich in einzelnen Fällen entschieden, Digitalisierungsprojekte aus allen Prioritätslisten herauszunehmen. Da werden sogenannte „Prio-Null“-Projekte mit aller Kraft vorangetrieben. Um nicht an oder gar in der Wand zu stehen, wenn die Wirtschaft wieder anzieht, sondern optimal gerüstet zu sein. Electric Powertrain, Autonomes Fahren, Digitalisierung der Medikamentenentwicklung und der Testzyklen gehören zu den Themen solcher Projekte. Und natürlich werden staatliche Fördermittel bevorzugt für Digitalisierungsaufgaben bereitgestellt, was sich für uns durchaus positiv auswirkt. Bei Dassault Systèmes gab es keine Entlassungen und keine Kurzarbeit. Gerade der Service wurde und wird in vollem Umfang gebraucht.
Ein allgemeiner Schub für die Digitalisierung kommt vermutlich erst, wenn die Gelder in den Unternehmen wieder freigegeben sind.
Ulrich Sendler: Welche Auswirkungen hatte die Pandemie für Dassault Systèmes konkret: wirtschaftlich, technisch, organisatorisch?
Klaus Löckel: Wirtschaftlich: Unser Geschäftsmodell verlagert sich sehr stark in Richtung Subskription anstelle von Lizenzverkauf. Bereits im ersten Quartal 2020 haben wir das gesehen. Auch Finanzierungsmodelle bekommen einen ganz neuen Stellenwert. Bei fast jeder größeren Investition ist derzeit die Finanzierung Bestandteil der Verhandlungen. Vor der Pandemie war das kaum ein Thema.
Technisch: Manche unserer Produkte werden wichtiger als andere. Jüngere Marken wie MEDIDATA oder BIOVIA stehen mit einem Mal im Zentrum der Aufmerksamkeit. Weil nun selbst für sehr kleine Unternehmen zum Beispiel wegen Homeoffice die Cloud gesetzt ist, bieten wir jetzt auch SOLIDWORKS in der Cloud. Lösungen wie „Try and Buy“ über einen Klick sind neu. Und Lokalisierung und Integration haben generell einen Sprung gemacht.
Organisatorisch: Erst mal sind alle Mitarbeiter ins Homeoffice gegangen. Dann haben wir drei Phasen der Rückkehr ins Büro definiert. Zuerst wurden alle Führungskräfte zurückgeholt. In der zweiten Phase, die bereits weitgehend abgeschlossen ist, haben wir 25 Prozent der Belegschaft ausgewählt, die wir wieder an ihre Arbeitsplätze holen wollten, Ausnahmen waren selbstverständlich möglich. Vor allem haben sich aber sehr viele freiwillig gemeldet, die gerne wieder in den normalen Arbeitsrahmen wollten. Wir wurden entgegen unseren Erwartungen regelrecht überschüttet mit solchen Anfragen. Mit der dritten Phase haben wir gerade angefangen. Danach sollen 50 Prozent wieder anwesend sein. Auf allen Ebenen haben wir dafür gewissermaßen Corona-Taskforces eingerichtet. Die globale Taskforce spricht einmal pro Woche miteinander, die lokale zweimal wöchentlich, und auch an jedem Standort treffen sich die für diese Maßnahmen Verantwortlichen zweimal wöchentlich.
Bei Dassault Systèmes haben wir einen übergeordneten Recovery-Plan entwickelt, dem wir dabei folgen. Auch die Kommunikationsfrequenz hat sich komplett verändert. Jeden zweiten Dienstagmittag gibt es jetzt virtuelle „All Hands Calls“, an denen im Schnitt 800 Mitarbeiter aus dem Vertriebsgebiet Zentraleuropa, welches ich verantworte, rund eineinhalb Stunden teilnehmen. Vorher fanden solche Absprachen einmal im Quartal statt. Wir bieten darin Video-Infos über jeweils einen bestimmten Unternehmensbereich und die Möglichkeit, im Anschluss Fragen direkt an die Verantwortlichen zu stellen. Dafür erhalten wir gutes Feedback von den Mitarbeitern. Unsere 3DEXPERIENCE Plattform nutzen wir intern seit dem Beginn der Pandemie noch viel stärker als vorher. Was den Umgang in den Niederlassungen angeht, folgen wir im Wesentlichen den offiziellen Empfehlungen der Bundesregierung.
Ulrich Sendler: Kürzlich kam aus Ihrem Haus eine Pressemitteilung zu einem neuen Service, den Sie und einer Ihrer Kunden jetzt anbieten. Um was handelt es sich dabei?
Klaus Löckel: Das Engineering Unternehmen TECOSIM arbeitet schon lange mit unserer Software SIMULIA. Nun hatten die Spezialisten dort die Idee, mit einer Simulation der eigenen Räumlichkeiten hinsichtlich der Luftströmung darin eine Lösung zu finden, um die Einrichtung der Arbeitsplätze zu verbessern. Ein 3D-Modell gestattet die Analyse der Aerosol-Dichte und ihrer Verbreitung, und über deren Analyse lässt sich das 3D-Modell so optimieren, dass das Infektionsrisiko für alle Mitarbeiter minimiert ist. In wenigen Tagen war die Lösung fertig. Jetzt ist es – von TECOSIM wie von Dassault Systèmes – ein Angebot als Software as a Service. Experten bauen den Interessenten das 3D-Modell der Räume und den gesamten Simulationskontext und implementieren die Lösung. Das Potenzial ist groß. So etwas kann man für eine Kantine machen, für einen Konzertsaal, für Produktionsanlagen, für Messen und vieles andere mehr. Momentan haben wir zirka 300 Interessenten.
Ulrich Sendler: Haben sich über die Pandemie Ihre Zielmärkte verändert? Welche Rolle spielt jetzt beispielsweise die Pharmaindustrie? Wie geht es bei den KMUs weiter?
Klaus Löckel: Natürlich spielen unsere Softwareprodukte für Design, Simulation, Datenanalyse und Datenmanagement auch bei der Suche nach Impfstoffen und in der klinischen Erprobung eine wachsende Rolle. Aber tatsächlich wird die diskrete Fertigungsindustrie auch in den kommenden Jahren unser wichtigster Zielmarkt bleiben. Auch in der Medizin ist es eher die Medizintechnik als die klassische Prozessindustrie, die unsere Unterstützung sucht.
Ganz allmählich dringen wir innerhalb der bestehenden Kundenbasis in neue Domänen vor, betreiben gewissermaßen Domänen-Diversifizierung. Das Gewinnen neuer Kunden beispielsweise in der Prozessindustrie, die teilweise mit PLM und 3D-Simulation noch nie zu tun hatten, ist sicher in der Pandemie nicht trivial. Allerdings hilft auch hier die Regulierung, denn jetzt werden Vorgaben gemacht, auf welche Weise mit Daten umzugehen ist. Im Bereich Life Sciences, den wir in die Segmente Patientenversorgung, Medizintechnik und Pharma/Biotech unterteilen, hatten wir schon vor Corona viel Potential gesehen. Es ist für uns ein noch junger, aber wachsender Markt.
Bei den KMUs hat Corona tiefe Einschnitte bewirkt. Wir rechnen damit, dass sich erst im dritten Quartal 2020 das eigentliche Ausmaß auf die Wirtschaft zeigen wird. Aber hier wird es sicher Insolvenzen geben. Vor allem, wenn die Fördermittel nicht mehr so üppig fließen wie in den letzten Monaten.
Ulrich Sendler: Erst kürzlich wurde bekannt, dass SAP und Siemens nun ihre Softwareportfolios für die Industrie zusammen vermarkten. Was heißt das für Sie?
Klaus Löckel: Diese Entwicklung sehe ich für Dassault Systèmes als Chance, da die meisten Unternehmen nach schnellen, flexiblen und vor allem skalierbaren und machbaren Lösungen suchen. Das alles spricht für uns. Daher vermute ich, wir werden jetzt noch gefragter sein als zuvor, die Unternehmen bei der Umsetzung ihrer Digitalisierungsstrategie zu unterstützen.