Interview mit Klaus Helmrich, Mitglied des Vorstands der Siemens AG und CEO Digital Industries
(Veröffentlicht auch in KEM Konstruktion)
PLMportal/Die Digitalisierer: Beginnen wir mit den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie auf Siemens: Wie viele Mitarbeiter in welchen Bereichen waren oder sind in Kurzarbeit?
Klaus Helmrich (Fotos Siemens): Knapp 75 Prozent der Mitgliedsunternehmen des ZVEI in Deutschland gehen derzeit von gleichbleibenden oder schlechteren Geschäften für das zweite Halbjahr 2020 aus. Und über die Hälfte der im VDMA zusammengeschlossenen Maschinen- und Anlagenbauer erwarten für 2020 Umsatzeinbußen von zehn bis 30 Prozent. Auch der Verband der Automobilindustrie (VDA) rechnet für das Gesamtjahr 2020 mit einem Rückgang des Pkw-Weltmarkts um 17 Prozent.
Dementsprechend hat sich auch unsere Auftragslage im Verlauf des Jahres eingetrübt, was dazu führt, dass wir selektiv an Standorten kurzarbeiten. Dies wirkt sich in manchen Fällen nicht nur auf die Produktion, sondern auch auf andere Teile des Unternehmens aus. Dabei kann es zu vorübergehenden Beschäftigungsschwankungen kommen.
Die Frage, ob oder wie lange Kurzarbeit gelten könnte, hängt von den besonderen Umständen für die verschiedenen Arten von Arbeit und von den Vereinbarungen ab, die mit Arbeitnehmervertretern an den einzelnen Standorten getroffen wurden.
Insgesamt sind bei Siemens derzeit etwa 8.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an den deutschen Standorten in Kurzarbeit. Der überwiegende Teil, d. h. ca. 85 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich in Kurzarbeit befinden, sind zu 20 Prozent bzw. vier Tage im Monat in Kurzarbeit. Um die Mitarbeiter/-innen zu unterstützen, stockt Siemens das Kurzarbeitergeld auf 85 Prozent auf.
Abgesehen vom Homeoffice für Büroarbeit: Welche Aufgaben in der Produktion konnten auf Remote umgestellt werden? Und auf welche Software und Automatisierungssysteme stützte sich das?
Klaus Helmrich: Bei Siemens war unsere oberste Priorität, die Sicherheit aller Mitarbeiter auf der ganzen Welt zu gewährleisten, unabhängig davon, ob sie ihre Tätigkeit ins Homeoffice verlegen konnten oder nicht.
Deshalb haben wir für die Arbeitsplätze in Büros, in Fabriken, im Service und im Vertrieb jeweils gezielte Konzepte erarbeitet. In der Produktion reichte das von akuten Sicherheitsmaßnahmen bezüglich Abständen, Desinfektion, Schutzmasken über geteilte Schichten und zusätzliche Pausenräume bis hin zu Fernzugriffen.
Beispielsweise ist das Engineering von Produktionsanlagen von zu Hause aus möglich – mit der Automatisierungsplattform TIA Portal in der Cloud. Ebenfalls aus der Distanz, z. B. über die Cloud und unsere Plattform MindSphere, lassen sich Maschinen und Anlagen überwachen; solche Lösungen bieten wir ja schon lange an, etwa für vorausschauende Wartung.
Wurden solche Umstellungen auch bei Kunden vorgenommen?
Klaus Helmrich: Natürlich haben wir auch unsere Kunden sehr schnell dabei unterstützt, wo immer möglich von zu Hause zu arbeiten, z. B. mit Softwarelösungen wie unserer Design- und Simulationssoftware NX. Außerdem haben wir die Entwicklungsplattform Mendix kostenlos zur Verfügung gestellt, mit der man ohne eigene Programmierer schnell und einfach Apps entwickeln kann. Für das Engineering ihrer Produktionsanlagen konnten unsere Kunden – wie wir selbst in unseren Fabriken – das TIA Portal in der Cloud nutzen.
Auch viele Services – nämlich bis zu 40% – können in diesen Zeiten, in denen Servicetechniker nicht oder nur eingeschränkt persönlich beim Kunden sind, dank digitaler und automatisierter Prozesse weiter funktionieren. Denn Inbetriebnahme, Wartung oder Reparatur von Maschinen sind auch aus der Ferne im digitalen Raum möglich. Unsere Service-Ingenieure können „remote“ auf die Maschine eines Kunden zugreifen und so die gleichen Anweisungen geben, wie wenn sie selbst vor der Maschine vor Ort stünden. Bei einem Kunden, dessen Standort wie viele andere für unsere Servicemitarbeiter geschlossen war, haben wir beispielsweise Virtual Reality eingesetzt, um dringend notwendige Servicearbeiten zu erledigen. Über VR-Brillen konnten wir die Mitarbeiter des Kunden so gut anleiten, dass sie die Arbeit selbst auszuführen imstande waren. Im Vertrieb haben wir ebenfalls sehr schnell auf virtuelle Kanäle gesetzt, von Videokonferenzen über Webinare bis hin zu Online-Beratung und -Trainings.
Sind das Umstellungen, die vielleicht ähnlich wie das Homeoffice zu bleibenden Prozessen werden?
Klaus Helmrich: Natürlich sind das Lösungen und Prozesse, die wir unseren Kunden dauerhaft anbieten können bzw. auch schon länger anbieten.
Insgesamt hat die Corona-Krise die Digitalisierung beschleunigt und viele Trends verstärkt. Wir sehen bei unseren Kunden eine gestiegene Nachfrage nach Lösungen, wie sie ihr Geschäft trotz sozialer Distanz und Reisebeschränkungen weiter betreiben können. Dazu kommt, dass diese Digitalisierungs- und Automatisierungslösungen ja auch dazu beitragen, die Produktion insgesamt flexibler, produktiver und effizienter zu machen. Das sind Anforderungen, die unverändert bestehen bleiben.
Herr Helmrich, Sie sprachen an anderer Stelle von einem neuen Tool, das F&E dabei hilft, die im Homeoffice erzielten Ergebnisse unmittelbar mit der Produktion zu koppeln. Welches Tool meinten Sie damit?
Klaus Helmrich: Unsere durchgängig virtuelle Maschinensteuerung Sinumerik One ist die erste komplett digitale CNC: Sie liefert zum ersten Mal ein digitales Abbild der Maschinensteuerung, das vollständig identisch mit der Realität ist, also einen digitalen Zwilling der Maschinensteuerung. Mit ihr kann der Maschinenbauer seinen Engineeringprozess komplett und nahtlos in die virtuelle Welt verlegen. Ein Arbeiten an realen Hardware-Prototypen ist nicht mehr nötig. So kann bereits ein Großteil der Maschineninbetriebnahme am virtuellen Modell erfolgen und es müssen nur noch die finalen Schritte an der realen Maschine durchgeführt werden. Das führt zu einer deutlich gesteigerten Flexibilität und Risikominimierung.
Auf Basis dieses digitalen Models kann später auch der Maschinenanwender in seiner Arbeitsvorbereitung neue Werkstücke bereits virtuell vorbereiten und einfahren, während die reale Maschine noch den letzten Auftrag abarbeitet. Und er kann beispielsweise auch Trainings am digitalen Zwilling der Maschine durchführen, und zwar an jedem x-beliebigen Ort. Dafür muss er ebenfalls nicht in der Fabrikhalle stehen.
Diese Lösung haben wir letztes Jahr auf der EMO in Hannover vorgestellt und ihre immensen Vorteile haben sich unter den neuen Rahmenbedingungen noch stärker gezeigt.
Was hat es – gerade in den letzten Monaten – an neuen Entwicklungen in der Hard- und Software gegeben, mit denen Siemens der Industrie hilft, der digitalen Transformation einen Schub zu geben?
Klaus Helmrich: Die beschleunigte Digitalisierung durch die Corona-Pandemie ist für uns natürlich eine Chance, unsere Kunden weiterhin bestmöglich zu unterstützen. Hier kommt unser gesamtes Digital Enterprise Portfolio zum Tragen: zum einen große Innovationen wie die Sinumerik Oneoder auch das neue, vollständig webbasierte Prozessleitsystem Simatic PCS neo. Beides haben wir erst im vergangenen Jahr vorgestellt.
Ein weiterer wichtiger Schritt ist, dass wir kontinuierlich Zukunftstechnologien in unser Portfolio integrieren, um eine noch umfassendere und tiefere Nutzung von Daten zu ermöglichen. So bringen wir die nächste Ebene an Intelligenz in Produktdesign und Produktion und machen diese noch flexibler. Die Zukunftstechnologien reichen von Künstlicher Intelligenz über Cloud Computing und Industrial Edge bis hin zu Industrial 5G und Additive Manufacturing.
Gerade der industrielle 3D-Druck hat sich auch in der Krise sehr bewährt, denn er ermöglicht schnelle, flexible und verteilte Produktionsalternativen für dringend benötigte Produkte.: So haben wir kurz nach Ausbruch der Pandemie unser Siemens Additive Manufacturing Network für Krankenhäuser und Gesundheitsorganisationen geöffnet. Auf dieser digitalen Plattform bringen wir Anbieter und Kunden aus dem Bereich der additiven bzw. 3D-Fertigung zusammen. Dort konnten Kliniken, Ärzte und andere ihren Bedarf an dringend benötigten Ersatzteilen für medizinische Geräte an 3D-Druck-Designer sowie auf 3D-Druck spezialisierte Unternehmen melden und so Lieferengpässe rasch und unbürokratisch überwinden. Das weltweit verfügbare Netzwerk deckt dabei die gesamte Wertschöpfungskette ab – von der Simulation über die Prüfung der Designs bis hin zu Druck und Service.
Ebenso zukunftsgerichtet ist unsere kürzlich verkündete Kooperation mit SAP. Hier bündeln wir unsere Kompetenz bei der Software für Product-Lifecycle-Management, Supply-Chain-Management und Asset-Management. Diese Kooperation erweitert unseren Ansatz des umfassenden digitalen Unternehmens: Wir schaffen eine durchgängige digitale Kette vom Design bis zum Betrieb, indem wir Produktentwicklung mit Echtzeit-Geschäftsinformationen und Leistungsdaten aus dem Betrieb verknüpfen. Das wird unseren Kunden helfen, ihre digitale Transformation weiter zu beschleunigen.
Und natürlich helfen wir unseren Kunden auch, die neuen Rahmenbedingungen sofort umzusetzen: Digital Industries hat eine Lösung entwickelt, mit der Unternehmen der produzierenden Industrie vor Ansteckungsrisiken in ihren Produktionsstätten gewarnt werden. Es handelt sich um eine intelligente Kombination von Simulationssoftware, tragbaren kleinen Ortungsgeräten und Kommunikationstechnologie. Wir nutzen das System selbst in einer Fertigung in Houston, Texas. Piloten laufen bei weiteren Kunden. Sie können damit die Abläufe in ihrer Produktion simulieren und digital optimieren, um die Arbeit sicher zu gestalten. Das System misst die Abstände zwischen den Arbeitern und schlägt im Risikofall Alarm. Die Kunden erkennen auch Hotspots in ihrem Werk und können im Ernstfall die Kontakte eines Erkrankten nachvollziehen.
Ist der Digitalisierungsschub für Siemens schon spürbar – auch in Aufträgen und Umsätzen – oder ist er absehbar für die Zeit, wenn die Wirtschaft wieder voll hochgefahren ist?
Klaus Helmrich: Das ist von Branche zu Branche und auch regional sehr unterschiedlich. Während die Pharmaindustrie sowie die Nahrungs- und Genussmittelindustrie derzeit stabil laufen, sind Kern-Industrien wie Maschinenbau, Automobilbau und Luftfahrt besonders stark von den Auswirkungen der Pandemie betroffen und halten sich mangels Nachfrage nach ihren Produkten mit großen Investitionen zurück.
Regional sehen wir in China ein leicht positives Wachstum, während vor allem Süd- und Nordamerika derzeit von der Corona-Pandemie sehr stark betroffen sind – mit entsprechenden Auswirkungen auf die Wirtschaft.
Insgesamt bleibt das Marktumfeld auch weiterhin sehr volatil und ungewiss. Daher benötigen die Kunden Technologien, mit denen sie ihre Produktionsanlagen schnell und flexibel auf unterschiedliche Bedarfe und auch ihre Fertigungslinien auf verschiedene Produkte einstellen können. Und das geht nur mit einer Kombination aus Automatisierungs-, Software- und Digitalisierungslösungen sowie der Integration von Zukunftstechnologien, wie wir es mit unserem Digital Enterprise anbieten.
Welche Branchen und Anwendungsgebiete haben sich als besonders anfällig gezeigt in der Pandemie, welche als besonders gut gerüstet?
Klaus Helmrich: Es waren diejenigen Unternehmen und Fabriken besonders gut gerüstet, die schon einen hohen Digitalisierungs- und Automatisierungsgrad hatten und sich so sehr schnell auf die neuen Umstände einstellen konnten. In unserem Werk in Amberg liegt der Automatisierungsgrad beispielsweise bei 75 bis 80%. Daher hatten wir dort kaum Produktivitätseinbrüche und konnten sehr schnell die Abläufe so umstellen, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geschützt waren.
In der Pandemie hat sich gezeigt, dass es wichtiger denn je ist, ganz flexibel auf neue und sich schnell ändernde Anforderungen reagieren zu können. Denn die einzelnen Branchen standen in den letzten Monaten vor ganz unterschiedliche Herausforderungen: Einige, wie etwa Food & Beverage oder Pharma, mussten ihre Produktion sehr schnell hochfahren. Andere, wie die Automobil- oder Luftfahrtindustrie, fuhren die Produktion herunter oder stellten sie sogar ein.
Die dafür notwendige Flexibilität ist nur mit Digitalisierungs- und Automatisierungslösungen zu erreichen. Ich sage bewusst: Digitalisierung und Automatisierung. Denn die Verknüpfung ist wichtig: Einen Prozess nur digital beschreiben und simulieren zu können, reicht nicht aus. Man muss dies auch direkt in der Automatisierung umsetzen können. Erst diese Verbindung von virtueller und realer Fertigungswelt ermöglicht die nötige Flexibilität. Und diese ist wiederum ein wichtiger Schritt hin zur autonomen Produktion.
(Klaus Helmrich ist auch Autor eines Kapitels im neuen Buch zur industriellen KI von Ulrich Sendler beim Hanser Verlag: „KI-Kompass für Entscheider“)