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20 Jahre PLM20 Jahre sind in der Informationstechnik eine lange Zeit. Der Begriff PLM hat 20 Jahre eine wichtige Rolle in der Industrie-Digitalisierung gespielt. Produktdaten zentral zu verwalten und zunehmend über den gesamten Lebenszyklus der Produkte zu nutzen, galt während dieser Zeit gewissermaßen als die Königsdisziplin in der Anwendung von Industriesoftware.

Nun treten andere Begriffe und Ansätze wie KI, Data Lakes und Internet der Dinge (IoT) immer mehr in den Vordergrund. Die Serie „20 Jahre PLM – Wo stehen die IT-Anbieter heute“ geht der Frage nach, welche Rolle das Produkt-Lebenszyklus-Management heute spielt. Möglicherweise auch als Basis für all die anderen Ansätze der digitalen Transformation. Im aktuellen Artikel betrachten wir Dassault Systèmes. Ein Gespräch mit Dr. Darko Sucic, Senior Director, Industry Consulting in Central Europe bei Dassault Systèmes. (alle folgenden Bilder: Dassault Systèmes)

Ulrich Sendler: Welche Rolle spielt PLM für Dassault Systèmes heute als Teil des Angebotsportfolios?

Dr. Darko Sucic: Nach wie vor eine sehr wichtige, denn in unserer 3DEXPERIENCE Plattform dreht sich alles um die vollständige Produktbeschreibung. Dabei handelt es sich inzwischen um mechanische, hydraulische, elektrische, elektronische und softwaretechnische Daten, denn Produkte wurden zu Systemen, und genau so hat sich unsere Beschreibung der Produkte und deren Verwaltung über den gesamten Lebenszyklus ausgedehnt. PLM ist auch heute das Grundelement unserer Plattform.

Sendler: Warum steht es dann auf der Homepage von Dassault Systèmes nicht mehr im Zentrum?

Dr. Sucic: Aus Sicht des Marketing ist es so, dass PLM scheinbar bei vielen Kunden als erledigt betrachtet wird. Ich glaube aber, dass viele, die über die Zukunftsthemen der Digitalisierung reden, vergessen, dass ein funktionierendes PLM dafür eine zentrale Voraussetzung ist. Manche reden über Digitalisierung, haben aber ihre Stückliste noch als Excel-Tabelle. Jetzt wollen sie mit der 3D-Brille die Produkte anschauen. Mit einer Excel-Tabelle kommt man da nicht weit. Wenn ein Unternehmen kein digitales Modell aus Stückliste und 3D-Bauteilen einschließlich Elektrik, Elektronik und Software hat, dann wird es mit der weiteren Digitalisierung schwierig. Insbesondere bei vielen mittelständischen Unternehmen, etwa unter 500 Mitarbeiter und privat geführt, sehen wir, dass sie den Schritt zu PLM als Voraussetzung für alles Weitere noch nicht gemacht haben. Das müssen sie jetzt dringend nachholen, wenn sie bei den anstehenden Entwicklungen mitreden und sich global aufstellen wollen.

Sendler: Welche Rolle spielt PLM mit Blick auf den digitalen Zwilling und neue Geschäftsmodelle?

Dr. Sucic: PLM dient nicht mehr nur zur Datenverwaltung. Es liefert die Daten aller Fachbereiche für den digitalen Zwilling, mit dem dann auch eine dynamische Simulation der Funktion eines Produktes in seiner Nutzung möglich wird. Und das wird immer wichtiger. Der Kunde kauft ein Produkt nicht mehr nach dem Datenblatt. Er will vor dem Kauf sehen, wie es funktioniert, was es kann, und was er damit machen kann. Die Erfahrung im Umgang mit einem Produkt ist entscheidend, also ist es enorm wichtig, dass man das schon am virtuellen Produkt zeigen kann. Diese Fähigkeit macht aus unserer Sicht einen digitalen Zwilling aus. Das gilt für Konsumgüterhersteller genauso wie für den Maschinenbau. Ohne PLM und ohne digitalen Zwilling gibt es kein neues Geschäftsmodell wie Equipment as a Service, wie es von immer mehr Unternehmen angestrebt wird.

Sendler: Verliert PLM an Bedeutung durch die wachsende Nutzung sogenannter Data Lakes? Können diese Datenseen PLM oder Teile davon ersetzen?

Dr. Sucic: Data Lakes sind eine sinnvolle Ergänzung im Internet der Dinge. Betriebsdaten einer Maschine zum Beispiel sammelt man nicht in einem PLM-System. Das PLM muss wissen, welche Teile einer Maschine welche Daten liefern können, aber die Masse der Betriebsdaten gehört nicht in dieses System. PLM ist ein Planungssystem. Was dann in der realen Welt geschieht, das ist eher etwas für einen Data Lake.

Sendler: In welchen Anwendungsbereichen sieht Dassault Systèmes seine strategischen Schwerpunkte für das Angebot von Standardsoftware?

Dr. Sucic: Es gibt drei Schwerpunkte: Der erste bleibt die Fertigungsindustrie. Aber wir gehen – das ist der zweite Bereich – nun immer mehr auch dorthin, wo die Produkte genutzt werden. Vor allem mit der Übernahme von Medidata zum Beispiel in die Medizintechnik und die klinische Forschung. Unser Ehrgeiz ist, eines Tages den menschlichen Körper genauso gut simulieren zu können wie heute irgendein mechatronisches Produkt. Der dritte Bereich sind die Städte, in denen der Mensch alle Arten von Produkten täglich nutzt. Beim autonomen Fahrzeug etwa geht es ja nicht nur um das Fahrzeug, sondern auch um die Umgebung und die Straße, um Passanten und Gegenstände. Da muss das Fahrzeug mit seinem Verhalten in dieser realen Umgebung simuliert werden können. Entsprechend haben wir übrigens inzwischen auch unser Unternehmen aufgestellt, nach den Bereichen Produkte, die der Mensch herstellt, den Menschen selbst und die Umgebung, in der er lebt und die Produkte nutzt.

Smart City:

Smart City: der Ort, wo Menschen unterschiedlichste Produkte nutzen.

Dr. Sucic: Unsere strategische Entscheidung ist längst für Software as a Service gefallen. Wir haben inzwischen zehn Jahre Erfahrung, und immer mehr Kunden entscheiden sich für die Lösung aus der Cloud. Ganz besonders gilt das für Start-ups, in den USA und in China wesentlich stärker als in Europa. Wir wären gerne schon weiter, aber das Geschäftsmodell wird von der Industrie nur sehr langsam angenommen. In Deutschland gilt das noch mehr als beispielsweise in Frankreich. Die Umstellung auf Subscription läuft ja auch bei unseren Wettbewerbern, aber es ist überall dasselbe Bild. Wir wollen unseren Kunden dafür die Zeit lassen, die sie brauchen.
Bild: Die Fertigungsindustrie bleibt ein Hauptschwerpunkt für Dassault Systèmes.

Sendler: Welches Gewicht hat für Dassault Systèmes die Beratung im Vergleich zum Softwareumsatz?

Dr. Sucic: Wir wollen unser Partnernetz weiter ausbauen und die Partner dabei unterstützen, die Beratung zu verstärken und womöglich auch eigene Produkte auf unserer Plattform anzubieten. Besonders wichtig ist auch das wieder für die Start-ups unter den Kunden. Dort ist nicht das Geld vorhanden für große IT-Investitionen, und schnelle Lösungen von Partnern auf Basis unserer Plattform passen da sehr gut. Wir haben auch Verträge mit unseren Partnern geschlossen, die auf die Kopplung von ERP und PLM in der Cloud auf unserer Plattform fokussieren. CENIT beispielsweise bietet ihren Connector mit der 3DEXPERIENCE Plattform auf der Preisliste von SAP an. Dassault Systèmes selbst hat nach wie vor seinen Fokus auf dem Softwareumsatz, und dabei spielen übrigens die vielen, vielen kleinen Installationen von SolidWorks eine beachtliche Rolle.

Sendler: Welche sind die wichtigsten Zielmärkte?

Dr. Sucic: Wir sind wie die meisten unserer Kunden global aufgestellt. Dassault Systèmes selbst ist schon vor Jahren aus einem französischen in ein europäisches Unternehmen umgewandelt worden. Unsere Entwicklungslabs sind überall auf der Welt. Allein in Deutschland sind über tausend Entwickler in unterschiedlichen Bereichen. Unsere Umsätze sind in den USA am höchsten, wenn wir von der Automobilindustrie absehen, die in Deutschland nach wie vor eine sehr große Rolle spielt. Aber in den USA sind zum Beispiel Google und Amazon unsere Kunden, auch der militärische Bereich und die Luftfahrt, Lockheed Martin und andere. Die abgebildeten Branchen, die bei Gründung der Plattform 3DEXPERIENCE vor gut zehn Jahren adressiert wurden, sind nach wie vor die für uns wichtigen Industriezweige. Bezüglich der Betriebsgröße haben wir unsere Organisation in drei Bereiche gegliedert. Partner wie Bechtle decken den größten Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen ab. Das ist unser Volume-Bereich. Der zweite besteht aus den Partnern, die die mittleren und größeren Unternehmen unterstützen, unsere Value Added Reseller. Und der dritte Bereich ist der eigene Direktvertrieb für die Key-Accounts.

Sendler: Als was für einen IT-Anbieter würden Sie Dassault Systèmes heute beschreiben?

Dr. Sucic: Wir sind natürlich weiterhin ein Industriesoftwareanbieter. Nachhaltigkeit und Innovation in der Industrie sind ohne den digitalen Zwilling nicht zu erreichen. Aber wir bieten heute virtuelle Welten in wirklich allen Bereichen. Wir wollen alles, was man in der realen Welt erlebt, in der virtuellen modellieren und virtuell erlebbar machen. Und damit leisten wir hoffentlich auch einen Beitrag zu einer nachhaltigeren Gestaltung der Welt außerhalb der Industrie.