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Interview mit Dr. Karsten Theis, Mitglied des Vorstands der PROSTEP AG, 18. August 2020
(Veröffentlicht auch in KEM Konstruktion)

Ulrich Sendler: Herr Dr. Theis, Sie haben schon vor dem Shutdown im März gesagt: „Die Situation lässt sich nur durch Agilität meistern“. Was meinten Sie damit

Dr. Karsten TheisDr. Karsten Theis: Da wussten wir noch nicht, was auf uns zukommt, dass das Geschäft unserer Kunden so stark ins Wanken gerät und wir unsere Arbeitsweisen so schnell umstellen mussten Aber wir hatten schon seit Jahren gesehen, wie sich alles immer schneller ändert. Dafür gibt es ja das Modewort VUCA (das Kürzel steht für volatility, uncertainty, complexity, and ambiguity, Anmerkung der Redaktion). Unser Tätigkeitsfeld liegt vor allem in der Produktentwicklung der Fertigungsindustrie. Da sind Lebenszyklen der verbauten Technologie kürzer als die der Software, mit der sie verbaut wurden. Parallel ändert sich die Erwartung der Kunden hinsichtlich digitaler Funktionen, gerade auch bei industriellen Produkten wie Maschinen und Anlagen, dramatisch. Die Pandemie hat das noch verstärkt. Man muss sich so aufstellen, dass man hinsichtlich Technologie, Geschäftsfeld und Geschäftsmodell mit den Veränderungen Schritt halten kann. Gerade jetzt heißt das: Den Trend hin zu Cloud-basierten Systemen darf man nicht ignorieren. Ohne zu wissen, wie es in zwei Jahren ist. Unternehmen müssen sich auf ihre Stärken konzentrieren, ihre Fähigkeiten weiter entwickeln und sich organisatorisch so aufstellen, dass sie schnell reagieren können. Das meine ich mit Agilität.

Ulrich Sendler: Kann man überhaupt heute schon erkennen, welche Auswirkungen die Pandemie hinsichtlich Digitalisierung und neuen Prozessen hat?

Dr. Karsten Theis: Eben nicht. Im Engineering der Fertigungsindustrie braucht beides Zeit. Ein neues PLM-Projekt etwa ist nicht in ein paar Monaten auf der Schiene, und lange Jahre erfolgreiche Prozesse in der Produktentstehung werden nicht von heute auf morgen geändert. Viele Tools, die es schon gab, und viel neue Tools sind nun in kurzer Zeit zum Zug gekommen, viele Tätigkeiten wurden auf virtuelle Prozesse umgestellt. Viel ist in den Köpfen passiert. Aber was davon wirklich umgesetzt wird, das wird sich frühestens im nächsten Jahr zeigen.

Und auf einige Fragen, zum Beispiel wie und mit welchen Mitteln und Methoden der persönliche Kontakt zwischen den Mitarbeitern eines Teams ersetzt werden kann, haben wir noch keine Antworten. Alles lässt sich jedenfalls nicht ersetzen. Der Mindset von PROSTEP und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Teams basiert auf sozialen Kontakten. Die fehlen jetzt schmerzhaft. Und wie stellen sich unsere kompetenten Spezialisten den Kunden vor, wenn es keine Konferenzen und Veranstaltungen gibt? Da sind wir selbst gerade auf der Suche nach neuen Wegen.

Ulrich Sendler: Gab es große Unterschiede in der Reaktion auf die Pandemie zwischen digital gut und weniger gut aufgestellten Kunden?

Dr. Karsten Theis: Definitiv gab es da große Unterschiede. Wer vorher schon mit sauber strukturierten, digitalen Prozessen gearbeitet hatte, war klar im Vorteil. Das gilt übrigens für die meisten unserer Kunden. Wir arbeiten aber auch viel mit Mittelständlern, die manchmal in einer Art Hero-based Engineering arbeiten. Da gibt es 20 sehr gute Leute im Unternehmen, und wenn die richtig zusammenarbeiten, funktioniert das bestens. Ein Kunde, Marktführer in seinem Segment, hat beispielsweise seinen ganzen Change-Prozess immer auf Post-its gemacht. Sehr effizient. Aber wenn alle zu Hause sind und nicht das digitale Post-it mit dem Change-Request haben, geht eben gar nichts mehr. So etwas Banales wie der Change-Prozess ist in den PLM-Systemen seit vielen Jahren Stand der Technik, das sollte man einfach haben.

Das größere Problem liegt aber im Geschäft selbst. Eine Fluggesellschaft kann sich so digital aufstellen, wie sie will. Wenn die Flüge nicht mehr stattfinden, bricht das Geschäft ein. Wenn Kreuzfahrten nicht mehr möglich sind, steht die Werft still.

Ulrich Sendler: War die Pandemie hilfreich bei der notwendigen Konsolidierung der IT-Landschaften in den Unternehmen? Kam es verstärkt zu Investitionen in neue Systeme?

Dr. Karsten Theis: Es gibt zwei Sorten von Unternehmen: Die einen stehen derzeit mit beiden Füßen auf der Bremse und schicken alle in Kurzarbeit, und die anderen nutzen die Zeit. Eine PLM-Migration beispielsweise ist etwas, das man in solchen Leerlaufzeiten deutlich besser bewerkstelligen kann, weil in vielen Fällen die IT weitgehend abgeschaltet ist und die Key-Player Zeit haben. Meistens geht es ja darum, mit dem neuen System auch neue Methoden zu entwickeln, etwas Neues zu machen, sich weiterzuentwickeln. Darum können sich in so einer Zeit die richtigen Leute kümmern. Ein neues PLM-System einzuführen ist meist ein Konzernprojekt über drei oder vier  Jahre. Solche Projekte sind jetzt teilweise weitergelaufen, aber manche wurden auch gestoppt.

Dr. Karsten TheisUlrich Sendler: Hat sich die Akzeptanz für Cloud-Services verbessert?
Videomitschnitt zur Cloud-Akzeptanz
Dr. Karsten Theis: Verteiltes Arbeiten weltweit ist nicht neu, aber stark beschleunigt worden. Digitalisiert ist das Engineering seit Jahrzehnten. Jetzt heißt der Trend Cloud, auch beim Mittelstand. Die einen haben weiterhin Angst um ihre IP, aber immer mehr sagen, in der Cloud ist das sicherer als im eigenen Netz. Ein Teil unserer Kunden will die Daten in Deutschland oder Europa haben, was aber kein Problem ist, da die Angebote dafür da sind.

Ulrich Sendler: Was ändert sich durch die Pandemie hinsichtlich der Globalisierung?

Dr. Karsten Theis (Foto Sendler): Reisen sind natürlich seltener geworden. Trotz US-Niederlassung fliege ich zurzeit nicht in die USA. Aber weltweite Lieferketten und verteiltes Arbeiten auch und gerade im Engineering wird es weiterhin geben. Ich denke sogar, dass die Pandemie die Globalisierung noch vorantreibt, weil das Zusammenarbeiten aus der Ferne jetzt normal ist, die Prozesse darauf weiter optimiert und die menschlichen Vorbehalte reduziert werden.

Ulrich Sendler: Beschleunigt Corona den Wechsel Ihrer Kunden zu neuen Geschäftsmodellen, etwa Service anstelle von Produktvertrieb?

Dr. Karsten Theis: In den Köpfen ist das da, aber der Bleistift ist spitz. Und es gibt ja gerade jetzt Gegenbeispiele: Flugzeugtriebwerke wurden seit etlichen Jahren nach Flugstunden bezahlt. Wenn der Flieger nicht mehr abhebt, wird das zum Problem. Wir haben einen Maschinenbaukunden in der Holzindustrie, der seine Maschinen über Betriebsstunden abgerechnet hat. Wenn der Großkunde die Produktion stoppt, ist das problematisch. Pay per use ist Risk-Sharing. Und das Risiko hat zwei Seiten, die man in der Pandemie deutlicher sieht als im Normalbetrieb.

Ulrich Sendler: Welches sind aus Ihrer Sicht die gravierendsten Folgen der Pandemie?

Dr. Karsten Theis: Am massivsten sind die wirtschaftlichen Folgen. Es wird etliche Verlierer geben. Bei einem Zulieferer, der kürzlich große Investitionen getätigt hatte, stehen alle Ampeln auf Rot. Kurz und mittelfristig wird es in der Automobilindustrie und im zuliefernden Maschinenbau große strukturelle Verschiebungen geben. Corona beschleunigt aber nur, was sich schon vorher abzeichnete.

Eine weitere Folge habe ich schon erwähnt: Weltweit forciert Corona die cloudbasiert verteilte Entwicklung. Gerade bei Endprodukten mit vernetzten Anwendungen wird sich sehr viel tun. Was über Homeoffice und virtuelle Meetings angestoßen wurde, bringt viel Veränderung und neue Tools wie virtuelle Fernsehstudios oder digitale Whiteboards.

Dr. Karsten TheisDann werden sich die Dinge international verschieben. China sehe ich als Gewinner. Dort fährt die Industrie schon wieder auf Volllast. Dagegen befürchte ich, dass die USA als Verlierer herausgehen. Dort entsteht durch die falschen und fehlenden Maßnahmen der Regierung auf mehrere Jahre hinaus ein Riesenschaden durch die anhaltende Pandemie, der irreparabel ist. Kurzfristig gibt es in den USA massenhaft Entlassungen und auch Wiedereinstellungen, aber die wirtschaftliche Struktur wird insgesamt geschwächt. Und Deutschland beziehungsweise Europa? Das ist die große Frage. Insgesamt ist das bei uns ganz gut geregelt worden und wir sind sehr zufrieden mit der politischen Reaktion hierzulande. Aber die neue Position gegenüber China und den USA müssen wir erst noch finden.

Videomitschnitt zur Vor-Ort-Präsenz

Noch eine Konsequenz: Die Vor-Ort-Präsenz von Mitarbeitern wie von externen Dienstleistern ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. PROSTEP wird mehr Mitarbeiter bei gleichem Büroraum haben. Wir wachsen, aber nicht der Büroraum. Und hier ist auch der Gesetzgeber gefragt. Es wird klare Regeln geben müssen für das Arbeiten von zu Hause. Auch steuerrechtlich ist da vieles ungeklärt.

Ulrich Sendler: Gab es bei PROSTEP Corona-bedingt Kurzarbeit oder Entlassungen?

Dr. Karsten Theis: Die PROSTEP AG hat weltweit 280 Mitarbeiter. Entlassungen gab es keine, aber Kurzarbeit für 12 bis 15 Prozent der Belegschaft, mit sinkender Tendenz. Dieses Instrument wollen wir auch nicht aus der Hand geben. Es bleibt sehr schwer abzuschätzen, wie es im zweiten Halbjahr und danach weitergeht. Das Auftragspolster aus dem ersten Halbjahr trägt im Moment, aber bei einigen Kunden ist das Geschäft völlig weggebrochen. Mancher Auftrag wurde komplett storniert, etliche Projekte pausieren. Es gibt Kürzungen bei Großkunden und weniger Neuaufträge.

Dr. TheisUlrich Sendler: Wie, glauben Sie, geht PROSTEP aus der Pandemie?
Videomitschnitt: Blick in die Glaskugel
Dr. Karsten Theis: Wir stellen Leute ein. Wir bekommen wieder gute Leute. Vor Corona war es praktisch unmöglich, neue Mitarbeiter zu bekommen. Jetzt haben wir ausnahmsweise einen Arbeitgebermarkt. Von dieser Seite gehen wir auf jeden Fall gestärkt aus der Pandemie. Wirtschaftlich ist es noch schwierig abzusehen. Das Auftragspolster für 2021 ist niedriger als es anfangs dieses Jahres war. Aber es ist einfach so: Die Digitalisierung, unser Hauptthema, wird durch die Pandemie verstärkt, und insofern werden auch wir gestärkt herauskommen. Wir waren sehr schnell online da mit unseren Diensten, und das hat unsere Position bei den Kunden sicher gestärkt.