Seite wählen

20 Jahre PLM

Siemens Digital Industries Software hatte schon eine Reihe von Namen. Bei einigen davon stand PLM oder PLM-Software im Zentrum. Heute ist das Softwareunternehmen mit Hauptsitz in Plano, Texas – mit mehr als 20.000 Mitarbeitern ein bedeutender Bereich von Siemens weltweit – nicht nur in Bezug auf die Anzahl der Mitarbeiter gewachsen, sondern auch in Bezug auf ein riesiges Portfolio, das beinahe alles umfasst, was man in fast allen industriellen Prozessen digital managen kann. Von mechanischem, elektrischem, elektronischem und Software-Engineering über die Simulation von Verhalten und Funktionalität bis hin zur Steuerung realer Maschinen mit Hilfe von künstlicher Intelligenz. Aber den Begriff PLM findet man dabei kaum noch. Das hat mich neugierig gemacht, herauszufinden, welche Rolle dieses seit rund 20 Jahren wichtige Dach über allen Arten von Branchensoftware für Siemens heute spielt.

Siemens war auch daran interessiert, mir Antworten auf diese Frage zu geben, und so hatte ich im September ein interessantes Gespräch dazu mit dem Verantwortlichen für PLM. Hier ist, was mir Joe Bohman, heute Senior Vice President, Lifecycle Collaboration Software, sagte. Bevor er die jetzige Position antrat, war er viele Jahre lang in den Bereichen CAD/CAM und PDM/PLM tätig.

Die Rolle von Teamcenter heute

Ulrich Sendler: Joe, meine erste Frage: Welche Rolle spielen PLM und Teamcenter heute im Rahmen Ihres Angebotsportfolios?

Joe Bohmann: Wie wir seit vielen Jahren sagen, ist PLM die ‚single source of truth‘, das Datenrückgrat für Industrieprodukte, das insbesondere für die Konfiguration von Varianten notwendig ist. Aber der Umfang dessen, was als Produktdaten definiert wird, umfasst immer mehr. Vor zehn oder fünfzehn Jahren waren die Produkte hauptsächlich mechanisch und auch die Debatte hat sich darum gedreht. Dann gab es ein enormes Wachstum bei den elektrischen und Softwarekomponenten. Die Rolle von PLM ist immer noch die der zentralen Datenquelle, aber jetzt auch für die elektrischen und Softwarekomponenten. Die andere Ausdehnung des Themas betrifft die von Entwicklung und Herstellung nun auch zum Betrieb und Service über den gesamten Lebenszyklus, und hier kommt IoT ins Spiel.

Ulrich Sendler: Bezogen auf die Disziplinen: Wie weit ist Siemens mit der Integration von ALM und EDA?

Joe Bohman: Für Application Lifecycle Management ist unsere erfolgreiche Software Polarion sehr wichtig. Wir sind dabei, Polarion von Beginn der Softwareentwicklung an zu integrieren, um die Rückverfolgbarkeit zu gewährleisten, die der Schlüssel zur Beherrschung der Produktkonfiguration ist. Das Gleiche gilt für das Portfolio von Mentor Graphics. Der Kabelbaum in einem Fahrzeug oder in einem Flugzeug, eine Leiterplatte oder eine Chipmaschine, das Design eines Mobiltelefons – der Maschinenbauingenieur arbeitet an der Verpackung, der Elektroingenieur arbeitet an der Platine, und die Platine muss in das Gehäuse passen. Wir ermöglichen den Menschen, auf eine viel stärker integrierte Weise zusammenzuarbeiten.

Teamcenter ist dabei immer noch das Dach über all den Daten aus den verschiedenen Disziplinen. Ein Automobilhersteller, der viele Probleme damit hatte, dass die Software in seinen Fahrzeugen nicht mit der Hardware übereinstimmte, konnte seine Garantiekosten durch die Integration von Software und Hardware unter dem Dach von Teamcenter erheblich senken.

 

Joe Bohman, Senior Vice President, Lifecycle Collaboration Software, Siemens Digital Industries Software (alle Bilder: Siemens)

Ulrich Sendler: Wie wichtig ist PLM für den digitalen Zwilling? Ist es immer noch Ihr Ziel, für jedes Produkt einen digitalen Zwilling zu haben? Und von wie vielen digitalen Zwillingen sprechen Sie?

Joe Bohman: Der Kern unseres Xcelerator-Portfolios ist das, was wir einen „umfassenden digitalen Zwilling“ nennen, was bedeutet, dass er die Daten aller Disziplinen und aller Teile der Wertschöpfungskette enthält. Wir glauben, dass wir bei Siemens den umfassendsten digitalen Zwilling auf dem Markt haben. Er deckt alle Disziplinen und den gesamten Lebenszyklus ab.

Der andere in diesem Zusammenhang sehr interessante Begriff ist „digitaler Faden“. Die Regulierungsbehörden können von einem Unternehmen in einer stark regulierten Branche den Nachweis verlangen, dass eines seiner Produkte eine bestimmte Norm erfüllt. Andernfalls wird das Unternehmen aus dem betreffenden System herausgeworfen. Dabei kann es sich um die Nachverfolgung neuer Software handeln, z. B. als Teil eines Herzschrittmachers, oder um Hardwareanforderungen. Mit einem Digital Thread können Sie alles finden, von der Softwaredefinition bis zu den Simulationsergebnissen, alles, was Sie getan haben, um dieses Produkt zu entwickeln. Ein solcher digitaler Faden basiert auf dem digitalen Zwilling.

„PLM und Data Lakes sind komplementär“

Ulrich Sendler: Verliert PLM durch den zunehmenden Einsatz von sogenannten Data Lakes an Bedeutung? Können diese PLM oder Teile davon ersetzen?

Joe Bohman: PLM und Data Lakes sind komplementär. PLM sind die strukturierten Daten des Produkts, wie man sie für eine Stückliste oder ein Anforderungsdokument benötigt. PLM basiert in erster Linie auf einer relationalen Datenbank. Ein Data Lake basiert in erster Linie auf einer „nicht-relationalen“ Datenbank. Er kann ein Dokument, eine Kalkulationstabelle und viele andere Dinge einbringen und sie semistrukturiert speichern. Das ist sehr nützlich, um einen Überblick zu bekommen. Ein CIO eines größeren Unternehmens möchte in der Regel Zugriff auf die Daten von Hunderten von Anwendungen an vielen Orten haben. Mit einem Data Lake kann er diese verschiedenen Quellen abfragen. Der Data Lake ist nützlich für Berichte und Analysen. Es ist eine Ergänzung zu PLM. Wir speisen viele Data Lakes mit unseren Daten.

Maschinelles Lernen ist ebenfalls ein großes Thema. Viele Leute nutzen maschinelles Lernen mit Data Lakes. Wir nutzen maschinelles Lernen auch mit PLM. Eines der klassischen Probleme in der Industrie sind die sogenannten Wiederholteile. Man braucht einen Aufhänger und kann keinen passenden finden, also baut man ihn neu. Eine der Lösungen für dieses Problem ist unsere Teileklassifizierung. Sie können Ihre Teile in einer Bibliothek ablegen und sie anhand der Klassifizierung finden. Viele Kunden machen das nicht. Der Grund dafür ist, dass die Klassifizierung der Teile Zeit kostet. Jetzt verwenden wir hierfür maschinelles Lernen. Wir haben TensorFlow von Google in unser Klassifizierungssystem integriert. Man kann es auf einige wenige Teile trainieren, und dann schlägt es automatisch vor, wie der Rest der Teile zu klassifizieren ist. Wir haben es bei einem Kunden getestet, der eine Bibliothek mit über einer Million Teile hatte. Sie konnten ihre Klassifizierungskosten um 90 Prozent senken. Teamcenter ist sehr modern (er lächelt).

Siemens integriert kontinuierlich neue Technologien in sein Portfolio, um die Zukunft der Automatisierung anzubieten.

Ulrich Sendler: Können Sie bitte etwas näher auf den Unterschied zwischen Teamcenter und dem bereits genannten Xcelerator eingehen?

Joe Bohman: Ich benutze eine Analogie: Microsoft Office besteht aus Excel, Word, PowerPoint, Exchange und einigen anderen wichtigen Anwendungen. Das ganze Paket wird Microsoft Office genannt. Siemens Digital Industries Software hat Teamcenter, NX, Simcenter und viele andere Tools, und wir fassen sie alle unter dem Namen Xcelerator zusammen. Das ist ein Name für unsere Arbeit, alle diese Tools zusammenzubringen.

Jetzt bieten wir Xcelerator Cloud an und bringen die gesamte Funktionalität dieser Werkzeuge in die Cloud, so dass die Kunden sie über die Cloud nutzen können. Unsere Kunden wollen mechanisches CAD, Simulation und PLM nutzen, und für sie ist es wichtig, dass alles zusammen funktioniert. Das ist der Grund für Xcelerator. Und innerhalb dieses Toolsets ist Teamcenter das Daten-Backbone.

Ulrich Sendler: Ist PLM wichtig für die Gestaltung neuer, digitaler Geschäftsmodelle?

Joe Bohman: Lassen Sie uns ein paar Beispiele betrachten. Ein – nicht völlig neues – Geschäftsmodell könnte die flexibilisierte Massenfertigung sein. In einem großen Automobilwerk in Europa werden täglich viele tausend Fahrzeuge hergestellt. Fast keines gleicht dem anderen. Nun ändert sich das traditionelle Händlernetz. Früher nahmen die Händler die Autos in Empfang und verkauften sie dann an die Kunden. Heute wollen die Kunden ihre Autos immer häufiger selbst konfigurieren und an die Händler ausliefern lassen. Das ist ein neues Geschäftsmodell. PLM unterstützt das. Alle dreißig Sekunden ein anderes Modell desselben Autotyps – das ist ohne PLM nicht möglich.

Ein weiteres Beispiel ist das Produkt als Dienstleistung. Wenn man in der Lage sein will, Produkte nach Verlassen des Werks zu verfolgen, eine Konfiguration sowohl für den eingebauten als auch für den gewarteten Zustand zu haben, dann braucht man PLM. Traditionell bedeutete dies für Entwicklung, Fertigung und Service: PLM, vielleicht PLM, und dann Tabellenkalkulation. Aber da die Kunden ihr Geschäft jetzt in den Service verlagern, wird auch PLM immer mehr in den Service ausgedehnt.

Firmware-Aktualisierung durch Flashen – ohne PLM nicht möglich

Ein drittes Beispiel: Viele Kunden sprechen über neue Softwarekomponenten in ihren Produkten und über deren Wartung. Ob Autofirmen oder Hersteller von Geschirrspülern, sie wollen die Firmware von Zeit zu Zeit durch Flashen aktualisieren können. Das ist ohne PLM nicht möglich.

Ulrich Sendler: Geht IoT ohne PLM?

Joe Bohman: Dazu gibt es einen lustigen Werbespot. Jemand sitzt beim Zahnarzt. Der Zahnarzt sagt: „Wow, ich habe noch nie solche schlimmen Löcher gesehen.“ Und er geht hinaus, ohne etwas zu tun. Das ist wie IoT ohne PLM. IoT wird Ihnen sagen, dass Sie ein Problem haben, aber ohne PLM können Sie es nicht beheben.

Ulrich Sendler: Was ist die Rolle von Mendix in Ihrem Portfolio?

Joe Bohman: Der Kernwert von Mendix ist Low-Code und die Fähigkeit, Anwendungen schnell zu erstellen. Die Leute nutzen Teamcenter, aber sie wollen vielleicht nur eine kleine Anwendung, um Teamcenter-Daten für die Kommunikation mit ERP oder einem anderen System zu nutzen. Jetzt haben wir eine Brücke zwischen Teamcenter und Mendix gebaut. Wir haben eine neue Technologie namens Data Hub und nutzen sie, um Daten aus verschiedenen Quellen zu sammeln. Es ist eine sehr synergetische Beziehung zwischen Teamcenter und Mendix.

Siemens stellt eine digitale Plattform zur Verfügung, die die Auswertung und Nutzung von Daten aus Antriebssystemen ermöglicht.

Ulrich Sendler: Welche Daten aus den vielen Applikationen von Siemens werden in den Teamcenter-Backbone integriert? Und wie managen Sie das?

Joe Bohman: Ich war 20 Jahre lang der CAD-Mann und habe NX betrieben. Da lautete die Frage: Welche CAD-Daten gehören in Teamcenter? Natürlich Attribute wie das Material, das Gewicht des Teils und Dinge, die zur Stückliste und zum Änderungsprozess gehören, und einige Metadaten. In Expedition, der Software von Mentor Graphics für das Leiterplattendesign, haben gibt es eine Reihe von Komponenten, die Block genannt werden, dann die Leiterplatte selbst und die Leiterbahn zur Leiterplatte. Die Schaltungsleitung kommt nicht in Teamcenter. Aber wenn der Kunde einen Block freigeben möchte, dann sind das die Informationen, die in Teamcenter sein müssen. Für jeden Teil unseres Portfolios prüfen wir, an welchen Elementen die Mitglieder der verschiedenen Teams getrennt arbeiten wollen. Das Datenmodell wird immer umfangreicher, aber unser Fokus liegt immer auf der Skalierbarkeit. Wir sammeln diese Daten und wenden dann unseren Leitgedanken des Konfigurationsmanagements an. Es gibt nicht ein Konfigurationsmanagement für die Platine, ein anderes für die Verpackung und ein drittes für die Software. Es gibt nur ein Konfigurationsmanagement und einen Änderungsprozess für das Produkt.

Ulrich Sendler: Welches sind die weltweit wichtigen Märkte für Siemens Digital Industries Software?

Joe Bohman: Siemens ist ein sehr globales Unternehmen. Die Vereinigten Staaten, Deutschland und Japan sind große und wachsende Märkte. Aber unter all diesen Märkten wächst China sehr schnell. Wir sind in drei Regionen tätig, Amerika, EMEA und Asien-Pazifik, und alle drei sind ziemlich ausgeglichen. EMEA ist vielleicht ein bisschen stärker, aber insgesamt ist es ziemlich ausgeglichen.

Ulrich Sendler: Was ist Ihr Ansatz bezüglich der Größe der Unternehmen, gemessen an der Zahl ihrer Mitarbeiter?

Joe Bohman: Speziell im Bereich PLM sehen wir einen sehr interessanten Trend. Traditionell haben die kleinen Unternehmen zwar in CAD investiert, aber nicht in PLM-Software und entsprechendes Personal. Aber die Cloud verändert hier die Gleichung. Mit der Cloud wird unsere Fähigkeit, KMU-Kunden zu erreichen, immer größer. Das liegt daran, dass Produktkomplexität, Time to Market und andere Dinge jetzt schlagartig auch bei den kleineren Unternehmen auf die Tagesordnung kommen.

Für kleinere Unternehmen sind wir sehr auf Partner angewiesen

Ulrich Sendler: Das bedeutet eine wachsende Bedeutung der Beratung. Machen Sie das mit Partnern oder selbst?

Joe Bohman: Der Anteil unseres Geschäfts, den wir mit unseren Partnern machen, wächst in der Tat. Gerade bei den kleineren Unternehmen sind wir sehr stark auf Partner angewiesen.

Die Optima consumer GmbH ist der erste Pilotkunde für das von Siemens und Festo gemeinsam entwickelte Multi-Carrier-System. Mit seiner Hilfe können produzierende Unternehmen ihre Produktionslinien schnell an unterschiedliche Formate, Größen und Produktarten sowie an saisonale Anforderungen anpassen.

Ulrich Sendler: Welches sind die wichtigsten Branchen, die Sie bedienen?

Joe Bohman: Jedes Unternehmen, das etwas herstellt. Wir sind sehr stark in der Automobilindustrie, dann in der Luft- und Raumfahrt, aber jetzt auch in der Halbleiterindustrie. Die Übernahme von Mentor Graphics hat sich hier stark ausgewirkt. Darüber hinaus konzentrieren wir uns auf Industrieanlagen und schweres Gerät, Schifffahrt, Medizintechnik und Konsumgüter, aber auch auf Energieversorgungsunternehmen.

Ulrich Sendler: Wie ist heute innerhalb von Siemens das Verhältnis zwischen den Bereichen Automatisierung und Software? Und wie läuft Ihre Plattform MindSphere?

Joe Bohman: Anton Huber, der für den Kauf von Unigraphics im Jahr 2007 verantwortlich war, hat uns immer gesagt, dass am Anfang der Automatisierung die Software steht. Unser Automatisierungsportfolio rund um Simatic und unser Softwareportfolio unter dem Dach von Xcelerator – das betrachten wir als Industrial Edge. Hier kommen die Hardware und die Software zusammen. MindSphere ist ein wichtiger Teil davon. Wir versuchen, alle Daten von der Hardware in MindSphere zu sammeln und dann Informationen aus der gesamten laufenden Hardware anzubieten, um sie mit PLM zu verbinden. Wir verwenden Mendix und den Data Hub, so dass Kunden schnell Anwendungen erstellen können, um die Daten zu nutzen, die von jeder Art von Hardware kommen. Data Hub im Zentrum von MindSphere und unser Engagement für Offenheit und offene Standards sind wichtige Punkte unserer Strategie.

Ulrich Sendler: Als welche Art von IT-Provider würden Sie Siemens beschreiben?

Joe Bohman: Wir nennen uns Siemens Digital Industries Software und klassifizieren uns als Anbieter von Industriesoftware. Wir waren PLM, aber dann haben wir ein großes Stück von EDA, von Low-Code und ALM erworben. Das letzte war Supplyframe, ein digitaler Marktplatz für Käufer und Verkäufer auf dem Chipmarkt. Insgesamt sind wir ein Anbieter von Industriesoftware.