Vorabveröffentlichung, erscheint als Kapitel 13 in „KI-Kompass für Entscheider“, Hanser Verlag 2020, ISBN: 978-3-446-46295-3, Herausgeber Ulrich Sendler
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder – EXC-2023 Internet of Production – 390621612
Autoren: Dr.-Ing. Christian Dölle, Stefan Perau, Werkzeugmaschinenlabor WZL der RWTH Aachen
Unternehmen stehen aufgrund eines zunehmend dynamischer werdenden Umfelds vor zahlreichen Herausforderungen, wie beispielsweise die Mikrosegmentierung von Märkten sowie immer kürzer werdende Produktlebenszyklen. Eine Möglichkeit diese Herausforderungen zu adressieren, ist die nachhaltige Steigerung der Innovationskraft.[1] Die Einbettung von Informations- und Kommunikationstechnologien in physische Produkte, deren Veredelung zu sogenannten cyber-physischen Systemen, bietet Unternehmen zahlreiche Potenziale für die Realisierung von Innovationen. Dabei ermöglicht ein cyber-physisches System, dass das Nutzungsverhalten datenbasiert ausgewertet und das Produkt an veränderte Anforderungen angepasst werden kann.[2] Eine ebensolche Vernetzung von Produkten wird als das Internet der Dinge (eng. Internet of Things, kurz IoT) bezeichnet. Die zunehmende Anzahl an vernetzten Produkten bietet dabei ein bislang noch kaum abzuschätzendes Potenzial für produzierende Unternehmen.
Bild 13.1 Konzept des internet of Production (IoP) (©Werkzeugmaschinenlabor WZL der RWTH Aachen)
Zur Realisierung dieser Potenziale in produzierenden Unternehmen haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der RWTH Aachen University in einer Kooperation der Fachrichtungen Produktionstechnik, Informatik und Wirtschaftswissenschaften das Konzept des Internet of Production (kurz IoP) entwickelt.[3] Mit dem IoP wird das Ziel verfolgt, eine neue Dateninfrastruktur zu schaffen, die einen erhöhten Level domänenübergreifender Zusammenarbeit ermöglicht, und zwar durch die Verknüpfung aller relevanten Systeme entlang des Produktlebenszyklus. Das Konzept des IoP ist in Bild 13.1 abgebildet.
Das IoP ist horizontal entlang des Produktlebenszyklus in die drei Teilbereiche Entwicklung, Produktion und Nutzung unterteilt. Innerhalb der vertikalen Richtung des IoP erfolgt die Verknüpfung und Aggregation von Unternehmensdaten. Dabei unterscheiden sich die Ebenen „Raw Data“, „Middleware+“, „Smart Data“ sowie „Smart Expert“ in ihrer jeweiligen Datengranularität. Unter Datengranularität wird der Detaillierungsgrad bzw. die Informationsdichte der unterschiedlichen Ebenen des IoP verstanden.
Die „Raw Data“-Ebene, als unterste Ebene des IoP, besitzt die feinste Granularität der Daten. In proprietären Datensystemen, wie dem Product Lifecycle Management (PLM) System, dem Enterprise Resource Planning (ERP) System oder dem Customer Relationship Management (CRM) System, liegen die Daten, die das Systemverhalten der Produkte und Prozesse entlang der Wertschöpfungskette abbilden. Die vorhandenen Datensätze in diesen Systemen sind jedoch zumeist indifferent bezüglich ihrer Vollständigkeit, Genauigkeit, Semantik und Granularität. Zur systemübergreifenden Analyse und Nutzung müssen die Daten daher zunächst in einem automatisierten Vorgang zielgerichtet gefiltert und verknüpft werden.[4]
Bild 13.2 Konzept der digitalen Schatten (©Werkzeugmaschinenlabor WZL der RWTH Aachen)
Diese Aufgabe wird im IoP in der Zwischenebene „Middleware+“ durchgeführt, in der eine echtzeitfähige Aggregation und Synchronisation stattfindet. In der „Smart Data“ Ebene erfolgt die eigentliche Auswertung der zusammengeführten Daten, anhand unterschiedlicher Algorithmen und Verfahren wie bspw. Korrelationsanalysen, Clusteralgorithmen, lernenden Algorithmen oder Meta-Heuristiken. Das Ziel der „Smart Data“ Ebene ist die Generierung von sogenannten Digitalen Schatten. Diese stellen die relevanten Zusammenhänge entlang des Produktlebenszyklus in einer für die jeweilige Anwendung ausreichenden Genauigkeit dar. Das Konzept der Generierung von Digitalen Schatten und die zugrundeliegende Aggregation der Daten ist in Bild 13.2 dargestellt.
In den Digitalen Schatten findet eine Analyse und Darstellung des Systemverhaltens anhand spezifischer Fragestellungen statt. Im Gegensatz zu einem Digitalen Zwilling werden im Digitalen Schatten nicht alle System- und Prozessdetails abgebildet, was zu einer gröberen Granularität der Daten führt und die Verarbeitung der Daten und Darstellung von Informationen signifikant vereinfacht und beschleunigt. Dabei können sowohl historische Analysen als auch Echtzeitdatenanalysen durchgeführt werden, um Optimierungspotenziale zu identifizieren und datenbasierte Hypothesen zu verifizieren.
Anhand des entstandenen ganzheitlichen Systemverständnisses ist es möglich, Handlungsempfehlungen proaktiv und schnell zu identifizieren, Konsequenzen individueller Handlungsoptionen aufzuzeigen und so schnelle Entscheidungen zu treffen. Die Verarbeitung der komplexen Zusammenhänge und Darstellungen zur Entscheidungsfindung werden auf der Ebene „Smart Expert“ realisiert. Dabei wird die Komplexität der Informationen auf erforderliche Kernelemente reduziert und dem Anwender visuell aufbereitet.
Die Entwicklung von intuitiven Benutzerschnittstellen ist hierbei für eine komfortable Nutzung entscheidend. Verfahren der KI sind auf dieser Ebene explizit vorgesehen. Mit Hilfe von KI können anwendungsspezifische, intelligente Agenten zur Verfügung gestellt werden, die es ermöglichen, effektivere und effizientere Lösungen als die Menschen zu finden.[5] Neben der Aufgabe der Entscheidungsunterstützung sind intelligente Agenten zudem in der Lage, bereits getroffene Entscheidungen zu speichern. Diese Entscheidungen können in Bezug zu vorhandenen Informationen gesetzt werden, um darauf aufbauend neue Erkenntnisse zu erhalten. Durch die Einbindung von KI entsteht folglich die Möglichkeit zur kontinuierlichen Verbesserung der Entscheidungsunterstützung. Insbesondere ein stetiges Lernen des Algorithmus anhand menschlicher Entscheidungen und die Identifikation und Analyse wiederkehrender Problemsituationen unterstützt eine zukünftige automatisierte Entscheidungsfindung durch KI.
Die Dateninfrastruktur des IoP ermöglicht es also, die Potenziale der zunehmenden Digitalisierung für produzierende Unternehmen nutzbar zu machen. Folglich bildet das IoP die notwendige Infrastruktur, um Anwendungen von Künstlicher Intelligenz in die Wertschöpfungskette produzierender Unternehmen zu integrieren.
[1] J. Gausemeier, R. Dumitrescu, J. Echterfeld, T. Pfänder, S. Tomas, D. Steffen, F. Thielemann, Innovationen für die Märkte von morgen, Carl Hanser Verlag, München (2019) 3
[2] C. Klötzer, A. Pflaum, Cyber-Physical Systems (CPS) als technologische Basis einer digitalen Supply Chain der Zukunft, In: Becker W. et al. (Hrsg): Geschäftsmodelle in der digitalen Welt, Springer Fachmedien, Wiesbaden (2019) 381-396
[3] G. Schuh, J-P. Prote J-P, S. Dany, Internet of Production, In: G. Schuh et al. (Hrsg): Engineering valley – Internet of production auf dem RWTH Aachen Campus, Festschrift für Univ.-Prof. em. Dr.-Ing. Dipl.-Wirt. Ing. Dr. h.c. mult. Walter Eversheim, 1. Auflage, Apprimus Verlag, Aachen (2017) 1-10
[4] L. Atzori, A. Iera, G. Morabito, The Internet of Things: A Survey, Computer Networks, Vol. 54, No. 15 (2010) 2787-2805
[5] S. J. Russell, P. Norvig, Artificial intelligence: A Modern Approach, Third edition, Pearson Education, Boston, Columbus, Indianapolis (2016) 1-59