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Ein Gespräch mit dem neuen Managing Director EuroCentral von Dassault Systèmes, Dominic Kurtaz, am 24.02.2021 bei Dassault Systèmes in München.

Ulrich Sendler: Wie fühlt es sich an, jetzt für das gesamte Portfolio von Dassault Systèmes verantwortlich zu sein, nachdem Sie zuletzt 3DEXCITE geleitet haben?

Dominic Kurtaz: Ich denke, 3DEXCITE ist eine super-spannende Marke. In der Vergangenheit ging es vor allem um Bilder und Filme. Aber wenn man es jetzt als Teil der 3DEXPERIENCE Plattform rund um Themen wie IoT betrachtet, wo wir wirklich digitale Erfahrungen einbringen wollen, wie sich das Produkt im Kontext verhält, dann ist das Teil des Bewusstseins- und Entscheidungsprozesses. Es eröffnet den Wert des virtuellen Zwillings in völlig neuen Bereichen. Das bietet enorme Möglichkeiten für ein echtes Gespräch mit Unternehmen darüber, wie sie dies für neue Service- und Geschäftsmodelle nutzen können.

Ein Marken-CEO zu sein, bedeutet auf der einen Seite, dass man sich sehr eng mit F&E und strategischen Überlegungen auseinandersetzt, um die nächste Stufe des Portfolios zu entwickeln. Auf der anderen Seite muss man die Kunden im Blick behalten und sicherstellen, dass man deren Erfolg vorantreibt. Als Managing Director bei Dassault Systèmes ist man viel stärker auf die Kunden ausgerichtet.

Was bringen Sie von 3DEXCITE mit?

Dominic Kurtaz (Foto Dassault Systèmes): Dassault Systèmes ist bereits führend bei PLM und CAD und vielen Aspekten der digitalen Fertigung. Aber bei Themen wie MBSE, Fertigung, Logistikplanung – da müssen wir eine Herausforderer-Mentalität entwickeln. Wenn wir auf den Elementen der Branche aufbauen, in denen wir als führend anerkannt sind, als Beschleuniger von Innovation, Akzeptanz und Antrieb bei den neuen Themen – dann können wir diese Dinge miteinander verbinden. Ich denke, das ist der wesentliche Grund, warum ich nun diese Position bekleide. 3DEXCITE ist ein gutes Beispiel dafür. Es war ein Angebot, das sehr auf händische Umsetzung orientiert und von anderen Tools abgekoppelt war, selbst von der Technologie her. Jetzt ist der virtuelle Zwilling nicht mehr eine Fertigungs- oder Produktdarstellung, sondern etwas, das man dem Kunden geben kann. Der Umfang des digitalen Zwillings muss neu gedacht und in die nächste Dimension weiterentwickelt werden.

3DEXCITE ist ein gutes Beispiel dafür, wie diese Technologien industrialisiert wurden. Die Daten vom Engineering in die VR zu transformieren, war ein enormer Aufwand und beinahe ein separater Prozess. Das war nicht zielführend. Der Prozess, wie man jetzt die Daten in VR bekommt, ist völlig anders. Man kann also darüber nachdenken, VR aus dem Cave zu holen und auf den Desktop der Menschen zu bringen.

Warum werden die Bereiche Fertigungsindustrie, Gesundheitswesen/Life Sciences und Infrastruktur/Städte in Ihrer Biografie besonders erwähnt?

Dominic Kurtaz: Wir verfolgen einen sektoralen Ansatz. Die drei Sektoren, auf die wir uns konzentrieren? Natürlich auf die verarbeitende Industrie als unseren traditionellen Bereich, für den man uns am besten kennt; dann Life Science/Gesundheitswesen, das seit einigen Jahren bei uns ein Schlüsselbereich für Investitionen ist; und schließlich Infrastruktur/Städte als der Sektor, in dem man als Anwender, Bürger und Patient lebt, und wo alle hergestellten Produkte landen. Warum diese drei? Der eigentliche Wert liegt im Zusammenspiel zwischen diesen Sektoren.

In der Fertigungsbranche versteht jeder, was der virtuelle Zwilling ist, was er bedeuten und wie er genutzt werden kann. In Life Science ist dieser Reifegrad noch nicht vorhanden. Es gibt eine Menge Wissen, das wir aus der Fertigung übernehmen können, um darüber nachzudenken, wie wir virtuelle Zwillinge von menschlichen Körpern bauen und nutzen können und wie sich diese verhalten. Was wir in der Fertigung gemacht haben, wie Massenpersonalisierung oder Losgröße 1, können wir auf die Massenpersonalisierung in der Medizin anwenden. Und für Städte/Infrastruktur haben Sie vielleicht gesehen, was wir in Singapur gemacht haben. Das ist nur der Anfang. Die Aggregation von Daten aus all diesen neuen Quellen, IoT, maschinellem Lernen und KI – wir können damit wirklich aufzeigen, dass wir eine virtuelle Darstellung der Stadt mit all diesen Verbindungen ermöglichen, der Produkte und der Stadt, in der sie betrieben werden. Der Wert der Verknüpfung dieser Sektoren untereinander ist entscheidend. Speziell Deutschland ist ein so starkes Zentrum der Innovation, vom Fahrzeug bis zum Impfstoff. Wir sind froh, dass wir gerade hier in Mitteleuropa Vorreiter für diese Sektor-Strategie sind.

„Deutschland nimmt die Cloud in allen Bereichen der Wirtschaft an. Die Infrastruktur spielt noch nicht mit.“

Gibt es in Deutschland ein Hemmnis für die Digitalisierung der Städte?

[Basierend auf der 3DEXPERIENCE Plattform bietet die Dassault Systèmes Industrielösung „Passenger Experience“ ein digitales End-to-End-System für Kommunikation, Vertrieb und Handel, damit Herstellern und deren Kunden gesamte Produktlinien und Varianten per immersivem Erlebnis zugänglich gemacht werden können (Bild und Bildtext Dassault Systèmes)]

Dominic Kurtaz: Gute Frage. Ich habe viele Geschichten gehört, dass die Wirtschaft zögerlich ist, wenn es um die Cloud geht. Aber die Daten zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist. Deutschland nimmt die Cloud in allen Bereichen der Wirtschaft an. Die Infrastruktur spielt noch nicht mit. Aber das liegt daran, dass die Politik sehr stark von den Wahlzyklen von vier oder fünf Jahren getrieben ist. Infrastruktur ist etwas, das einen viel längeren Zeithorizont braucht.

Was sind Ihre Ziele für dieses und die nächsten Jahre?

Dominic Kurtaz: Intern gibt es eine andere Art von Führung. Der geschäftliche Erfolg ist sehr stark vom Erfolg der Mitarbeiter abhängig. Ich möchte unsere Mitarbeiter in die Lage versetzen, anders zu denken, ihnen neue Ziele setzen und sie dabei stärken. Wenn wir den Kunden in unserem Denken an die erste Stelle setzen, treibt das letztendlich unseren eigenen langfristigen Erfolg voran. Manchmal verlieren wir die Tatsache aus den Augen, dass es der Erfolg unserer Kunden ist, der unseren eigenen Erfolg antreibt. Ein Aspekt ist also die Neupositionierung dessen, wofür wir hier in EuroCentral als Dassault Systèmes stehen.

Unter Kundenorientierung verstehe ich, dass ich von unseren Kunden nicht nur als derjenige wahrgenommen werden möchte, der Systems Engineering beherrscht, sondern als vertrauenswürdiger Partner für viele neue Themen, natürlich aber auch für unsere bestehenden Felder. Die Simulation ist ein gutes Beispiel. In vielen Unternehmen ist es immer noch der Spezialist, der Simulation einsetzt. Nicht jeder Ingenieur hat sie auf seinem Desktop, obwohl es technologisch inzwischen möglich ist.

Wir sind als Softwareentwickler dafür bekannt, immer auf der Suche nach dem nächsten Schritt, der nächsten neuen Anwendung, neuen Erweiterungen der 3DEXPERIENCE-Plattform zu sein. Manchmal müssen wir auch umdenken. Wir haben heute Millionen von Anwendern unserer Kerntechnologie. Wir müssen uns nicht nur auf den nächsten Schritt konzentrieren, sondern beispielsweise auch auf die Mitarbeiter und ihre Fähigkeiten, wie sie für die Zukunft benötigt werden, etwa wie wir Maschinenbauingenieure dabei unterstützen, mehr über Systeme und Software und die Validierung von Simulationen nachzudenken.

In der Automobilindustrie ist die Elektrifizierung ein Schlüssel, die Mobilität der Zukunft ist ein Schlüssel, und die Brennstoffzelle ist ein Schlüssel. Niemand braucht diesen Unternehmen zu sagen, wohin sie müssen. Die Frage ist, wie sie dorthin kommen. Wir müssen uns künftig ebenso sehr auf das Wie konzentrieren wie auf das Was, das in der Vergangenheit unser Hauptaugenmerk hatte.

Strebt Dassault Systèmes so etwas wie Low Code an, um die Transformation für die Kunden zu erleichtern?

Dominic Kurtaz: Es geht nicht nur um Low Code, sondern auch darum, dass Unternehmen wieder ihre eigenen CAD-Systeme bauen, wie in den Anfängen, als firmenspezifische Software der Standard war. Die Menschen erfinden ihre eigenen Integrationen und passen ihre eigenen Prozesse an. Es gibt immer noch zu viel Anpassung. Da muss erst ein Umdenken stattfinden, bevor wir mit Dingen wie Low Code beginnen können. Das wird kommen, aber wir sind noch ein Stück davon entfernt.

Ein Wechsel auf der Position des CEO ist immer eine Art Scheideweg. Wohin geht der Weg von Dassault Systèmes mit Ihnen?

Dominic Kurtaz: Ich sehe keinen Scheideweg. Es geht um Beschleunigung und das Setzen neuer Prioritäten. Wir müssen mit unseren Kunden viel schneller in die Cloud gehen. Ohne Frage ist sie der Wegbereiter für neue Geschäftsmodelle mit unseren Kunden, sie ist ein Innovationsbeschleuniger, und sie bringt uns auch ein viel besseres Verständnis dafür, was unsere Anwender tun, damit wir vorausschauender handeln können. Das ist ein Grundstein für uns, ein Grundstein für unsere Kunden, und darauf müssen wir viel mehr Wert legen.

Auf der anderen Seite müssen wir an den Kunden, Kunden, Kunden denken. Manchmal möchten wir als Technologieanbieter zuerst an unsere Technologie denken und erst dann daran, wie wir sie für den Kunden einsetzen können. Damit müssen wir aufhören.

Aber Ihre Kunden sehen das mit ihren eigenen Kunden noch nicht wirklich so, oder?

Dominic Kurtaz: Ja, das stimmt. Wann immer man eine Definition des digitalen Zwillings oder des virtuellen Zwillings findet, dreht es sich immer um das Design, um das Engineering, um die Fertigung. Der Kunde unseres Kunden ist in dieser Diskussion nie vertreten.

Akzeptanz der IT als Mittel zur Transformation – eher die Ausnahme als die Norm

Wie sehen Sie die Trends auf dem Markt für Industriesoftware?

[Mit der Industrielösung „Smart, Safe & Connected“ von Dassault Systèmes können Unternehmen die Markteinführungszeit für Produktinnovationen verkürzen, die Verwaltung von komplexen Systemen optimieren und eine integrierte Plattform für Mechanik, Elektronik, Software und Simulation schaffen (Bild und Bildtext Dassault Systèmes)]

Dominic Kurtaz: In unserer Branche wird seit vielen Jahren über Transformation und große Themen wie PLM gesprochen. Wenn wir zurückschauen und genauer untersuchen, was unsere Kunden gemacht haben, dann war es doch vielfach immer noch der Einsatz von Technologie innerhalb von Silos in den Unternehmen. Die Akzeptanz von IT als Mittel zur Transformation ist immer noch eher die Ausnahme als die Norm. Aber es gibt jetzt in der Pandemie eine gewisse Beschleunigung. Die Menschen fangen an, mehr vom Anfang bis zum Ende zu denken. Die Kunden erkennen zunehmend die Transformationsaspekte, die die IT mit sich bringen kann, und nicht nur die operative Exzellenz innerhalb der einzelnen Silos. Wir kommen aus diesen spezialisierten Bereichen in den Automobilunternehmen, wir kommen aus Bereichen wie Roh-Karosserie oder Fahrwerk oder Systemtechnik. Es ist gut, dass wir dieses tiefe Fachwissen haben, aber wahrscheinlich haben weniger als 30 % der Mitarbeiter beim Kunden mit diesen Technologiesilos in solcher Tiefe täglich zu tun. Wir müssen den anderen 70 % den Zugang zu diesen Silos erleichtern und die Nutzung der Daten und Prozesse aus diesen Silos viel, viel einfacher machen. Bislang galt die Denkweise, dass die Spezialisierung und das Know-how innerhalb dieser Silos der Schlüssel für die Transformation waren. Es war aber eher die Grundlage dafür, während der eigentliche Schlüssel für die Transformation ist, den Zugang zu diesem Fachwissen viel, viel einfacher zu machen. Hier hat die 3DEXPERIENCE Plattform den Nagel auf den Kopf getroffen. Wir bauen auf der Spezialisierung auf und machen es einfacher.

Was hat sich durch die Pandemie verändert?

Dominic Kurtaz: 3DEXCITE ist ein gutes Beispiel dafür. Das Geschäft von 3DEXCITE basierte und basiert immer noch auf der Arbeit mit sehr sensiblen Daten unserer Kunden. In den letzten zwanzig Jahren waren sie sehr streng in Bezug darauf, wie wir auf diese Daten zugreifen, wie wir diese Daten verwalten und sogar, wo wir mit diesen Daten arbeiten. Innerhalb von zwei Wochen hat sich das im März 2020 komplett geändert. Unsere Kunden sagten, die Daten seien sehr geschäftskritisch für sie, und wenn wir unsere Mitarbeiter mobilisieren müssten, damit sie von zu Hause aus arbeiten können, dann seien ihnen all die alten Prozesse egal, solange wir uns nur weiterhin verpflichten, ihre Daten zu verwalten. Das klingt wie ein operatives Thema, aber es ist ein Transformationsthema. Warum? Weil wir jetzt die Daten überall auf der Welt einsetzen können. Das erlaubt uns eine Skalierung nach oben und nach unten und die Übernahme von Daten in neue Geschäftsbereiche, was vorher nicht möglich war. Das hat das Betriebsmodell unseres Geschäfts komplett verändert, und das in einem Zeitrahmen von zwei Wochen. Es war unglaublich.

In einem Gespräch räumte ein Manager eines unserer Kunden aus der Automobilbranche ein, dass er keine Kontrolle mehr über die verschiedenen Prozesse, Technologien und Zugangspunkte haben kann. Er kann ein Daten-Framework aufbauen und weiß, dass er keine Kontrolle mehr über die Zugriffe hat. Das verändert die Denkweise in der IT. Wenn jemand auf Daten zugreifen will, hat er einen gemeinsamen Einstiegspunkt und einen gemeinsamen Standard. Das Entwicklerportal eines großen Automobil-OEM ist dafür ein gutes Beispiel. Anwendungen werden auf der ganzen Welt und in allen Bereichen des Unternehmens entwickelt. Die Anwendungsentwicklung selbst ist nicht mehr kontrollierbar, aber der Rahmen, und die Datenbasis, auf die die Anwendungsentwickler Zugriff haben, sind definiert. Das setzt andere Parameter für den CIO. Die Kontrolle ist weg, aber das haben noch nicht viele Menschen erkannt.

Was denken Sie, wie wird Dassault Systèmes aus dieser Pandemie herauskommen?

Dominic Kurtaz: Dassault Systèmes hat ein sehr robustes Geschäftsmodell. Ein Großteil unserer Umsätze basiert auf Subskriptions- und Lizenzverlängerungsgebühren. Und da unsere Angebote für unsere Kunden geschäftskritisch sind, sehen wir eine hohe Stabilität bei der laufenden Erneuerung. Das ist eine gute Sache. Ich denke, wir werden aus der Krise gut herauskommen.

Aber letztlich wird unser Erfolg durch den Erfolg unserer Kunden bestimmt. Die vielen Unbekannten in den verschiedenen Branchen sind also eine Chance für uns, die Beziehungen zu vielen Kunden neu zu bewerten und sicherzustellen, dass für uns genau dieses neue Denken im Zentrum steht. Bei vielen der klassischen Themen, die wir gut kennen, ist das schon so. Aber bei vielen der neuen Themen, etwa wie unsere Kunden wiederum mit ihren eigenen Kunden interagieren, da sind wir eher ein Herausforderer. Wenn unsere Kunden Dassault Systèmes als den Anbieter wahrnehmen, der ihnen hilft, die Kommunikation und Interaktion mit ihren Kunden neu zu erfinden, wäre das ein großartiges Ergebnis, mit dem wir aus der Pandemie herauskommen.