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Seit rund 20 Jahren gibt es den Begriff PLM für Produkt-Lebenszyklus-Management oder Product Lifecycle Management. Damals sprach niemand von Digitalisierung oder digitaler Transformation, KI war noch ein Spezialgebiet von Informatik-Freaks, IoT kannte in Deutschland kaum jemand. Jetzt ist das alles da. Und PLM gerät in den Hintergrund. Nur marketingtechnisch? Oder verliert das Thema an Bedeutung? Dazu führe ich eine Reihe von Gesprächen mit den Anbietern, die sich in den vergangenen 20 Jahren unter dem großen PLM-Dach wohl fühlten. Einzelnen ist das einen exklusiven Beitrag wert, für den sie ein Budget haben. Andere begnügen sich mit Input für einen zusammenfassenden Beitrag, den ich ans Ende dieser kleinen Artikelserie stellen werde.

Die interessante Geschichte eines Begriffs

Wie fing alles an? Darüber stritten sich lange die Geister. Viele wollten das neue Akronym erfunden haben. Prof. Michael Abramovici, damals noch beim Beratungshaus Ploenzke und noch nicht Professor, benutzte den Begriff in der von ihm für Ploenzke organisierten Veranstaltung über Produktdatenmanagement. Erstmals wann? Das ist kaum noch zu eruieren. Aber an eine andere Geschichte kann ich mich noch sehr gut erinnern, die mir den Begriff und seine Entstehung damals als sehr vernünftig und logisch erscheinen ließ.

IBM – um die Jahrtausendwende noch ein angesehener Anbieter von Engineering Software, exklusiver Vertriebskanal von Dassault Systèmes für die CAD/CAM-Produkte aus Paris, aber auch Hersteller eines eigenen Systems für industrielles Produktdatenmanagement (PDM) – stellte für die eigene Entwicklung und Fertigung von Computerhardware sowie die zugehörige Auftragsabwicklung fest, dass das PDM-System vorn und hinten nicht ausreichte, um die Kernprozesse informationstechnisch durchgängig zu unterstützen. Zu dieser Zeit gab es eine Pressemitteilung, in der IBM die Industriewelt über eine ins Auge gefasste strategische Zusammenarbeit informierte, die neben IBM und Dassault Systèmes unter anderem auch Ariba und SAP umfasste. Und was damit bezweckt werden sollte, nannte IBM in jener Pressemitteilung Produkt-Lebenszyklus-Management (PLM).

Wie schnell sich die Dinge weiterentwickelt haben, und so ganz anders als gedacht. Zu der angepeilten strategischen Zusammenarbeit der genannten Firmen ist es nie gekommen. Das Thema verschwand genauso plötzlich, aber weniger auffällig, von der Agenda von IBM, wie es gekommen war. Und es blieb nicht beim Rückzug von dieser Partnerschaft. Es dauerte nicht mehr lange, und IBM verkaufte erst das eigene PDM-System an Dassault Systèmes, um schließlich den ganzen damals noch Engineering Software überschriebenen Bereich samt Personal an seinen ehemals engsten Partner abzugeben. Und auch wenn IBM in den letzten Jahren mit Watson IoT wieder in der Industrie auftauchte, die Fachleute, die Ingenieure und Techniker kennen das Haus kaum noch als Anbieter für ihre Belange.

Dassault Systèmes war dafür in den beiden folgenden Jahrzehnten einer der Großen rund um PLM. 3D-PLM nannten sie es zuerst, weil sie das 3D-Modell – natürlich vorzugsweise mit dem eigenen System CATIA erzeugt – als zentrales Element digitaler Produktdaten sahen. Die anderen Hauptanbieter waren PTC und Unigraphics Solutions, die 2007 von Siemens übernommen wurde und deren Systeme NX und Teamcenter heute den Kern des Portfolios von Siemens Digital Industries Software bilden. SAP hat einige Jahre ebenfalls einen Bereich SAP PLM genannt, aber das währte nicht besonders lang und zielte vor allem auf die Pharma- und sonstige Prozessindustrie.

Von links: Bernard Charles, CEO Dassault Systèmes, Jim Heppelmann, CEO PTC, Tony Hemmelgarn, CEO Siemens Digital Industries Software, Johann Dornbach, CTO PROCAD (Bild PROCAD) und Karl Heinz Zachries, CEO CONTACT Software, übrige Fotos Sendler

Andere Industriesoftwareanbieter wie Autodesk haben den Sprung auf die PLM-Ebene trotz mehrfacher Anläufe und Aufkäufe nie geschafft und spielen in diesem Zusammenhang keine Rolle. Wieder andere – und das gilt insbesondere in Deutschland – haben sich ganz und gar dem Thema PLM verschrieben und sind damit gewachsen. Die bekanntesten und inzwischen größten Beispiele dafür: PROCAD mit dem Hauptsitz in Karlsruhe und CONTACT Software in Bremen.

Eine Sonderrolle spielt ARAS, die mit der Fortentwicklung einer Software ganz gut im Rennen zu sein scheinen, die ursprünglich von Eigner und Partner entwickelt worden war, dem Softwareunternehmen des späteren Prof. Martin Eigner. Die Sonderrolle: Die Software kann jeder gratis herunterladen, bezahlt werden die ARAS-Mitarbeiter für die Beratung, die man dann wie bei anderen Systemen braucht, um die Prozesse in Unternehmen damit zu steuern.

Und schließlich gab und gibt es eine Reihe von Systemintegratoren, die in Zusammenhang von PLM für die Industrie eine große Rolle spielen. Denn ohne ihre Hilfe vor Ort wären viele Großinstallationen und Systemkopplungen gar nicht zustande gekommen.

In Deutschland und generell im deutschsprachigen Raum ist PLM etwas Besonderes. Ich kenne keine andere Region, deren Ingenieure und Manager so konsequent im Durchorganisieren ihrer industriellen Prozesse sind. Und dafür benötigen sie PLM. Ich hege den Verdacht, dass dies ein wichtiger in einer Reihe von guten Gründen ist, weshalb die deutsche Industrie immer noch so stark ist. Fast ein Viertel des Bruttoinlandsproduktes steuert sie bei, und für fast ein Viertel aller Beschäftigten in Deutschland stellt sie die Arbeitsplätze. Eine Deindustrialisierung, die fast alle anderen ehemals führenden Industrieländer von Großbritannien über Frankreich, Italien bis zu den USA in ihren Strudel gerissen hat, blieb hier bislang weitgehend aus. Ähnliches gilt nach meiner Kenntnis nur noch für Japan.

Was ist PLM?

Was PLM eigentlich genau bedeutet, das war in den ersten Jahren wie bei allen neuen Begriffen gar nicht so einfach herauszufinden. Es musste aber einigermaßen klar definiert werden, denn immerhin sollten ja unter diesem Kürzel Softwarelizenzen an möglichst viele Industrieunternehmen verkauft werden. Da musste schon deutlich sein, was sich hinter PLM verbarg.

Die Anbieter von Industriesoftware insbesondere im Bereich der Produktentwicklung hatten in Deutschland seit 1995 im sendler\circle – in den ersten Jahren unter dem Namen CADcircle expertenforum – ihre Interessengemeinschaft. Und dort wurde fast zwei Jahre lang eine regelrechte Grundsatzdebatte geführt, auf welche Definition sich denn wenigstens die entsprechenden Softwareanbieter verständigen konnten. Das wurden schließlich im Mai 2004 die Liebensteiner Thesen, denn die Mitglieder des sendler\circle hatten sie auf einem Meeting im Hotel Schloss Liebenstein einstimmig verabschiedet.

Die Liebensteiner Thesenlauten

  • Produkt Lifecycle Management (PLM) ist ein Konzept, kein System und keine (in sich abgeschlossene) Lösung.
  • Zur Umsetzung/Realisierung eines PLM-Konzeptes werden Lösungskomponenten benötigt. Dazu zählen CAD, CAE, CAM, VR, PDM und andere Applikationen für den Produktentstehungsprozess.
  • Auch Schnittstellen zu anderen Anwendungsbereichen wie ERP, SCM oder CRM sind Komponenten eines PLM-Konzeptes.
  • PLM-Anbieter offerieren Komponenten und/oder Dienstleistungen zur Umsetzung von PLM-Konzepten.

Nach dieser Definition hätte es eigentlich nie ein System geben dürfen, das PLM-System genannt wurde. Das war aber dann doch der Fall. Tatsächlich gab es bald eine ganze Palette von PLM-Systemen, für die ihre Hersteller in Anspruch nahmen, dass sie dem in den Liebensteiner Thesen formulierten Ansatz mehr oder weniger umfänglich entsprachen. In der Praxis entpuppte sich das bei genauerer Betrachtung oft als nicht ganz den Realitäten entsprechend.

Erstens waren es zu Beginn noch vor allem mechanische Bauteile und Produkte, die von diesen Systemen erfasst wurden, denn der Anteil der Elektronik und Software stieg erst mit dem neuen Jahrtausend dramatisch und führte bald zu Konzepten wie Systems Engineering und anderen Methoden interdisziplinärer Zusammenarbeit bei der Entwicklung und Herstellung mechatronischer Geräte. Folglich war es etwas vermessen anzunehmen, dass die ersten PLM-Systeme tatsächlich den gesamten Produktentstehungsprozess komplexer Produkte und ihren Lebenszyklus abbilden konnten.

Und zweitens wurden diese Systeme meist hauptsächlich in der Produktentwicklung genutzt, später auch in der Produktionsentwicklung. Aber bis heute ist es nur eine kleine Zahl von meist größeren Unternehmen, die die im PLM verwalteten Daten tatsächlich auch für die anderen Prozesse der Wertschöpfung oder gar für den Bereich des Produktbetriebs bis zum Recycling einsetzen. Nach dem Engineering ist meist erst einmal Schluss mit der Verfügbarkeit digitaler Produktmodelle. Nicht selten werden sie in den nachfolgenden Prozessen mit anderen Mitteln neu erstellt.

Dennoch möchte ich an dieser Stelle für die ursprüngliche Idee PLM eine Lanze brechen. Wenn wir heute von digitalen Zwillingen reden, die die Simulation der Realität – beispielsweise also auch der realen Produkte oder ihrer Produktionsanlagen – gestatten, dann ist in der Regel die Grundvoraussetzung dafür, dass die bereits im Engineering entstandenen Daten in ihrer Gesamtstruktur erfasst und zentral und sauber verwaltet werden, also via PLM. Das werden schon in der allernächsten Zeit alle Unternehmen zu spüren bekommen, die aus Kostengründen, mangels Personal oder wegen anderer Engpässe PLM gern als etwas betrachtet haben, das nur für die ganz große Industrie wie die Automobilkonzerne und Flugzeugbauer und ihre größten Zulieferer interessant und nötig ist. Es ist für alle, gleich welcher Größe, nötig, die passende digitale Zwillinge ihrer Produkte für neue, digitale Dienste nutzen wollen.

Warum diese Artikelreihe?

Als Gründer und Leiter von CADcircle und sendler\circle habe ich die Entwicklung dieser 20 Jahre sozusagen hautnah erlebt: Ich habe den Begriff und dazugehörige Softwaresysteme kommen und gehen sehen; ich habe gesehen, wie die Anbieter und ihre Portfolios sich entwickelt haben. Jetzt sehe ich, wie – nach Autodesk schon vor etlichen Jahren – auch große PLM-Anbieter wie PTC und Dassault Systèmes den Kreis und die Interessengemeinschaft nach und nach verlassen und sich zunehmend anderen Themen zuwenden. Obwohl das Thema PLM keineswegs erledigt ist und nicht abgehakt werden kann.

Dass es – gerade in der deutschsprachigen Region – auch weiterhin ein erfolgreiches Geschäft ermöglicht, zeigt beispielsweise die Entwicklung von CONTACT Software und PROCAD, die beide heute rund 250 Mitarbeiter haben.

Diese interessante Gemengelage brachte mich zur Idee dieser Hintergrundserie. Was genau sind die Strategien, die sich bei den (bisher) als PLM-Anbieter bekannten IT-Herstellern hinter ihrem so unterschiedlichen Marktauftritt verbergen? Was verändert sich für die anwendende Industrie, was für die Systemintegratoren? Welche Folgen hat der sich abzeichnende Wandel möglicherweise für den Industriestandort Deutschland beziehungsweise Zentraleuropa?

Angesprochen habe ich für diese Serie: Autodesk, CONTACT Software, Dassault Systèmes, ECS Engineering Consulting & Solutions, PROCAD, Keytech, PROSTEP AG, PTC, SAP und Siemens Digital Industries Software.