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Alle reden davon, dass OT und IT zusammenwachsen, konvergieren. Manche prophezeien gar ein Verschmelzen. Tatsache ist, dass durch den neuen Markt offener, Linux-basierter Plattformen in der Industrie-Automatisierung kaum ein Stein auf dem anderen bleibt. Diesmal ist es aber wohl nicht die IT, von der die Innovation ausgeht, sondern die OT, die sich die wichtigsten Fortschritte der IT zu eigen macht. OIT, Operational Information Technology, bringt diese Entwicklung ganz gut auf den Punkt.

Wer den Begriff OT geprägt hat, habe ich noch nicht herausgefunden. Es ist allerdings nicht nur mein Verdacht, dass er wohl aus dem IT-Bereich kam, vielleicht um die Programmierung von Feldgeräten und deren Management als Nicht-IT auszugrenzen. Die dort nötige maschinennahe Programmierung, die Bits und Bytes zur Steuerung von Pumpen, Motoren, Roboterarmen und Förderbändern im µ-Sekundentakt, das war etwas anderes als Informatik. Von dieser Überheblichkeit ist nicht mehr viel zu spüren.

Technologischer Sprung in der IT – Überholen durch die OT

Tatsächlich hat die IT in den vergangenen Jahrzehnten eine unerhörte Weiterentwicklung erfahren, von der die OT lange Zeit unberührt war. Das Verlagern großer Teile der Technik in die Cloud; die Durchdringung sämtlicher Bereiche der IT mit KI; die Verfügbarkeit von No-Code und Low-Code zur Programmierung mancher Anwendung auch ohne Kenntnis von Hochsprachen. Als Sahnehäubchen die Offenlegung von technologischen Herzstücken wie Kubernetes Mitte der Zehnerjahre – mit der IT von 1990 hat all das nicht mehr viel gemein. Die wichtigsten IT-Architekturen sind heute Microservice-basiert.

Aber in dieser Zeit haben die Spezialisten der OT dafür gesorgt, dass – trotz rasant stark wachsender Komplexität der Industrieprodukte und ihrer Produktion, und mit dem Tsunami von immer kleiner werdenden Sensoren, Aktoren, Kameras und anderen Komponenten bis hin zur Internet-Vernetzung – dass diese Fertigungsindustrie im deutschsprachigen Raum immer noch Weltmeister geblieben ist. Während die IT-Systeme in allen industriellen Prozessen mehr und mehr zum Klotz wurden, dessen Kosten in ungünstigem Verhältnis zu seinem Nutzen standen.

Die inzwischen zu wahren Riesen gewachsenen IT-Systeme sind in ihrer Architektur und Programmierung auf dem Stand der Technik der Neunzigerjahre stehengeblieben. Unbeweglich, unflexibel. Und immer noch kämpft die Industrie damit, wie die einzelnen Anwendungsbereiche über die Grenzen dieser Systeme hinweg besser miteinander arbeiten können.

Über die Brücke von Echtzeitlinux und offenen Standards bewegt sich die Operational Information Technologie in Richtung IT.

Jetzt fällt die Mauer zwischen IT und OT. Mitte der Zehnerjahre hat die Echtzeitfähigkeit von Linux die Tür für die OT weit aufgestoßen. Jetzt strömen sie geradezu massenhaft durch diese Tür. Dabei zeigt sich: Die Tür steht zwar für beide Seiten offen, aber die Ströme kommen hauptsächlich aus der OT.

Was jetzt möglich wird, ist die Nutzung von Daten aus den Produkten, und das heißt auch aus den Maschinen, Geräten und Produktionsanlagen. Lange Jahre hatte sich die IT beschwert, dass aus den proprietären und monolithischen OT-Systemen keine Daten zur Verfügung gestellt würden, so dass diese, obwohl täglich in Terabyte erzeugt, ungenutzt im Shopfloor liegen und in den Maschinen stecken blieben. Aber es ist nicht die IT, die nun die Chance nutzt.

Bunte Pflänzchen aus dem Betonboden der Fabrikhalle

Der erste Schritt des Mauerfalls war offene Container-Technik mit Docker und Kubernetes auf Echtzeit-Linux. Und schon Ende der Zehnerjahre begannen neue Pflänzchen aus den Betonböden der Fabrikhallen zu sprießen: Microservice-basierte Plattformen, mit denen die bis dahin in der IT geltende Bedeutung des Begriffs Plattform vom Kopf auf die Füße gestellt wurde.

Hier ist Offenheit nicht mehr ein Schlagwort, mit dem Kunden auf eine proprietäre IT-Plattform gelockt werden, von der sie nicht mehr herunterkommen sollen. Hier ist Offenheit Realität. Jeder kann diese Plattformen nebeneinander für unterschiedliche Zwecke nutzen, teilweise arbeiten die Hersteller, obwohl gleichzeitig Wettbewerber, so eng zusammen, dass ihre Apps auf verschiedenen Plattformen laufen können. Und die der Maschinenbauer auch.

Innerhalb weniger Jahre gibt es – allein in der Marktübersicht Smart Automation – 13 Plattformen für industrielle Automatisierung, zwei weitere kommen in Kürze hinzu. Aber die Plattformen sind nur der Grundstein. Es ist der Anfang einer neuen, digitalen Phase der Industrie-Automatisierung. Denn die Plattformen haben alle eine Architektur, mit der sich alle erdenklichen Funktionalitäten verwirklichen lassen, nicht nur das Steuern und Optimieren der Produktion. Diese ersten Plattformen sind wie das erste iPhone 2007. Was auf den Smartphones aus dieser ersten Idee geworden ist, weiß jeder. Man kann ahnen, was nun erst recht auch in der Industrie und auf Basis von Industrieprodukten möglich wird.

Es kommen bereits zahlreiche Spezialplattformen aus vielen, vielen Start-ups, die sich jeweils auf einen bestimmten Use Case oder eine besondere Funktion konzentrieren. Gestaltung von Benutzeroberflächen, Visualisierung von Analysen, Nutzung digitaler Zwillinge, Management der Cybersecurity und anderes mehr. Parallel dazu arbeitet ein Vielfaches kleiner Entwicklungsteams – bei den Maschinenbauern, aber auch in der Garage – an Apps, die auf den Automation-Plattformen laufen können.

Diese Plattformen werden vermutlich die Basis sein, auf der nun sehr bald das Internet der Dinge massenhaft Gestalt annimmt. Produkte aller Art lassen sich mit digitalen Diensten ausstatten, mit denen ihre Hersteller auch digitale Wertschöpfung realisieren können. Die Vision von Industrie 4.0 wird Realität.

Nicht Hyperscaler und IT – die Automatisierer geben den Takt

Nicht die IT-Hyperscaler von Amazon über Google bis Microsoft, die seit zehn Jahren auf den Industriemessen den Zugang zu diesem Markt suchen, haben die Plattformen gebaut. Und auch nicht die Anbieter von Standard-IT, von Dassault Systèmes über PTC bis SAP und Siemens oder die MES-Anbieter. Nein, es waren OT-Spezialisten, und ausschließlich Automatisierer beherrschen derzeit die Marktübersicht. Aktuell sind es die Folgenden, zu denen noch Beckhoff mit TwinCAT und KEB mit NOA hinzukommen werden:

Eine von drei Vergleichstabellen der neuen Marktübersicht Smart Automation 2021/1. Neben dieser zur Interoperabilität gibt es auf Plattformvergleich noch eine zu den Anwendungsfeldern und eine zu den Zielmärkten.

Bosch Rexroth mit ctrlX AUTOMATION, FLECS Technologies mit FLECS, German Edge Cloud mit ONCITE DPS, Hilscher Gesellschaft für Systemautomation mit netFIELD, KEBA AG mit Kemro X, Lenze mit Lenze NUPANO, Phoenix Contact mit PLCnext Technology, SALZ Automation mit SALZ Controller, TTTech Digital Solutions mit Ubique, TTTech Industrial Automation AG mit Nerve, WAGO mit WAGO OS und WAGO ctrlX OS, und Weidmüller mit u-OS und easyConnect.

Was hier gerade wächst, wird öffentlich noch kaum beachtet. De-Industrialisierung wird an die Wand gemalt, mangelnde Innovationskraft der heimischen Industrie beklagt. Dabei ist es wieder dieser Kern der Industrie, der schon in den 70er Jahren mit der ersten Phase der programmierten Automatisierung durch speicherprogrammierbare Steuerungen für die Stärke des Industriestandorts gesorgt hat. Die Plattformen kommen alle aus Deutschland und Österreich.

Vergleichbares aus China und den USA ist nicht bekannt. Alibaba Cloud schließt stattdessen eine Partnerschaft mit Phoenix Contact wegen PLCnext. Hätten wir auch nur ein paar Politiker mit Verständnis für die Industrie und ihre Technologien, wie sie in China die höchsten Ämter bekleiden, dann würden sie diese Entwicklung mit aller Kraft unterstützen und mit diesem Thema in die Wahl ziehen. Leider haben wir sie nicht.

Die Chance für den Industriestandort und seine KMU

Was hier wächst, hat das Zeug zum Motor eines erneuten Aufschwungs der Industrie, der auch noch mit Nachhaltigkeit und Kampf gegen die Ressourcen-Verschwendung verbunden ist. Reduzierung der Energienutzung, Management sicherer und gleichzeitig bezahlbarer Produktion nachhaltiger Produkte und schier unbegrenzte Möglichkeiten der sicheren Datennutzung aus Maschinen und Anlagen – das werden die Erfolge sein, wenn die Industrie das Potenzial der neuen Angebote nutzt.

Ganz besonders gilt das übrigens für jene Betriebe, die das starke Rückgrat unserer Industrie bilden, die kleinen und mittleren Unternehmen, die KMU. Vor vier Jahren habe ich mir die Mühe gemacht, aus den Zahlen des statistischen Jahrbuchs herauszuholen, wie diese Industrie strukturiert ist. (Artikel  auf meiner Homepage) Das Ergebnis war frappierend. An den Zahlen dürfte sich seitdem nicht viel geändert haben.

Mein Artikel von 2021 hat an Aktualität nichts verloren. (Quelle: Die Bedeutung der KMUs auf einen Blick, Sendler, 07/21

96% der 46.900 Unternehmen in der fertigenden Industrie Deutschlands haben weniger als 500, 90% weniger als 250, und sogar 50% weniger als 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die großen Konzerne mit mehr als 1.000 Beschäftigten machen gerade einmal ein Prozent dieser Unternehmen aus. Aber die Aufmerksamkeit gilt fast ausschließlich diesem einen Prozent. Wenn bei Volkswagen über Einsparungen geredet wird, stehen eben Zehntausende Beschäftigte zur Diskussion, von denen mit ihren Familien ganze Regionen abhängen.

Aber ob unser Industriestandort insgesamt überlebt und seinen Vorsprung noch eine Weile halten kann, das entscheidet sich durch Firmen wie die Plattformanbieter und die allermeisten ihrer Kunden.

Das Schöne ist: Weil die Anbieter und ihre OT- und IT-Spezialisten selbst bodenständig sind und wissen, was die Fabrikhalle braucht, haben sie ihre Plattformen so gestrickt, dass sie für jeden Unternehmer bezahlbar sind und jedem, auch dem kleinsten Unternehmen eine erhebliche Steigerung seiner Wertschöpfung ermöglichen.

Ich habe viel Zuspruch bekommen für meine Idee und meinen Wunsch zum Jahreswechsel, dass 2025 das Jahr der offenen Automatisierungsplattformen werden möge. Die Lebendigkeit der Marktübersicht zeigt schon mal einen guten Start in dieses Jahr. Ob es das Jahr des Durchbruchs wird, hängt von der Industrie ab.