Seite wählen

Zehn Jahre nach dem Start der Initiative Industrie 4.0 hatten die Professoren Kagermann und Wahlster, zwei der Initiatoren, bereits Ende März einen FAZ-Artikel veröffentlicht, in dem sie einen Rundum-Erfolg reklamierten (PLMportal-Artikel dazu). Nun sollte ein Spitzendialog dies am 16.6. bestätigen. Und wenn man die FAZ vom 18.6. liest (und die Kommentare darunter nicht), dann ist das gelungen. Wenn man sich zugeschaltet hatte, sah man etwas anderes. Und der Mittelstand, das Herz der Industrie, kam gar nicht zu Wort.

Wahlster (Screenshot Sendler) formulierte seine Bilanz zu Beginn des virtuellen Dialogs mit einem merkwürdigen, aus dem Fußball entlehnten Maßstab, den die FAZ zitiert: „Die erste Halbzeit kann man dadurch charakterisieren, dass wir erst einmal alle Produktionsdaten digital erfasst, übertragen und gespeichert haben. Das ist heute selbstverständlich. Jetzt kommt aber in der nächsten Halbzeit die umfassende digitale Auswertung und Nutzung dieser Daten mittels Künstlicher Intelligenz (KI) hinzu, um eine Null-Fehler-Produktion zu ermöglichen.“

Dazu der Kommentar von FAZ-Leser Fred Meier: „Wir haben „alle“ Daten erfasst? Wirklich?“ In der Tat. Vielleicht ist Fred Meier im Mittelstand tätig und weiß, wie es um die Digitalisierung bestellt ist. Nicht einmal der schnelle Internetzugang ist in Deutschland außerhalb der Metropolen gesichert. Es verschlägt einem die Sprache, wenn jemand mit dem Wissen von Wahlster behauptet, es seien „alle Produktionsdaten in den Unternehmen digital erfasst, übertragen und gespeichert“, und das sei „heute selbstverständlich“. Das stimmt weder für die Großen, aber noch viel weniger für das Herz der industrie, die KMUs.

Für 2018 sagen die jüngsten Zahlen des Statistischen Jahrbuchs: 46.900 Betriebe in Bergbau und verarbeitendem Gewerbe beschäftigten 6,4 Millionen und damit 21,4% der insgesamt 29,9 Millionen Berufstätigen. Was in der Öffentlichkeit wenig diskutiert wird: Von den 46.900 Unternehmen waren 89,5% KMU, also Betriebe mit weniger als 250 Mitarbeitern. Zählt man die mittleren Unternehmen mit bis zu 500 Mitarbeitern hinzu, dann machten diese kleinen und mittleren Betriebe sogar 95,8% aller Industrieunternehmen aus. Das kleinste Unternehmen, das beim Spitzendialog mitreden durfte, war Wittenstein mit knapp 2.900 Mitarbeitern im Jahr 2020. Damit gehört es zu den 1,4% Großunternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten. (Statistisches Jahrbuch Deutschland und Internationales 2019, Statistisches Bundesamt, S. 558)

Auch von großen Unternehmen werden wir Fachjournalisten gelegentlich in Hallen eingeladen, in denen nicht einmal alle wichtigsten Maschinen auch nur vernetzt sind. Von der Erfassung, Übertragung und Speicherung ihrer Betriebsdaten ganz zu schweigen.

Screenshot vom virtuellen Podium beim Spitzendialog von links: 1. Reihe Prof. Henning Kagermann, Prof. Siegfried Russwurm (BDI), Cedrik Neike (Siemens), 2. Reihe Thomas Saueressig (SAP), Volkmar Denner (Bosch), Jörg Hofmann (IGM), 3. Reihe Manfred Wittenstein

Aber selbst wenn dem so wäre: Das wäre dann also die erste Halbzeit? Zehn Jahre Industrie 4.0, um Produktionsdaten digital verfügbar zu haben? Und die zweite wäre nun „die umfassende digitale Auswertung und Nutzung dieser Daten mittels Künstlicher Intelligenz (KI), um eine Null-Fehler-Produktion zu ermöglichen“? Null-Fehler-Produktion als das Endziel einer zwanzig Jahre währenden Initiative mit dem Slogan einer vierten industriellen Revolution? Ich habe diese Initiative einmal gut gefunden und geglaubt, man könne einige im Konzept angelegte Fehler im Laufe der Umsetzung bereinigen. Jetzt sehe ich, dass der Ansatz selbst grundsätzlich falsch war. Dass die falschen Experten die Umsetzung angeleitet haben. Und dass die falschen Unternehmen beteiligt waren und sind. Und dass sich alle ungestraft ziemlich viel in die Tasche lügen dürfen.

100.000 digitale Zwillinge?

Die FAZ hat aus dem Spitzendialog offenbar einen wichtigen Weckruf mitgenommen: „Für Deutschland und Europa müsse es (…) darum gehen, nicht nur in zentralen industriellen Technologien führend zu werden oder zu bleiben, sondern auch in den verwendeten Standards. „Sonst landen wir am Ende bei 100. 000 digitalen Zwillingen, die miteinander nichts zu tun haben wollen“, betonte Siemens-Vorstand Cedrik Neike. SAP-Vorstand Thomas Saueressig bekräftigte, es benötige technologische „Öko-Systeme, nicht Ego-Systeme“, um das zu gewährleisten.“

Da sitzen die Chefs der beiden größten deutschen Softwareanbieter und finden nette Worte dafür, dass doch bitte alle Unternehmen ihre Systeme zum Standard machen sollen. Und wer soll kein Ego-System haben? Die Kunden? Die Nutzer?

Weiter heißt es in der FAZ mit Bezug auf die Äußerungen des vor zehn Jahren noch als Siemens-Vorstand beteiligten Prof. Russwurm: „Für die deutsche Industrie insgesamt gehe es darum, die führende Position in vielen Bereichen zu verteidigen, sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm. „Wir wollen der Fertigungsvorbereiter der Welt bleiben.“ Ein Schlüssel dazu liege in der verstärkten Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, großen wie kleinen.“

Wollen Unternehmer wirklich „Fertigungsvorbereiter der Welt“ sein? Geht es nicht darum, Made in Germany auch für digital vernetzte Produkte und darauf basierende Geschäftsmodelle zur weltweit anerkannten Marke zu machen? Das war meine Vorstellung von Industrie 4.0, und das wurde auch in vielen Ländern – USA und China eingeschlossen – vor zehn Jahren als die neue Herausforderung aus Deutschland gesehen. Nun scheint sich das Ganze in Nebel aufzulösen. Es ging den Verantwortlichen wohl doch nur um eine weitere Phase der Automatisierung und Standardisierung von Logistik und Produktion, um ein paar Prozent mehr Effizienz. Da muss man sich nicht wundern, dass das Konzept Industrie 4.0 nicht mehr zu den Top-Themen gehört, wenn Unternehmer über die Zukunft reden.

Der FAZ-Artikel begann mit den Fragen: „Wie steht es um die Zukunft der Industrie 4.0? Wie bleibt die deutsche Industrie konkurrenzfähig? Und welche Folgen hat die Künstliche Intelligenz?“

Die Antworten könnten lauten: Um die Zukunft der Industrie 4.0 steht es schlecht, solange sie sich nicht am wichtigsten Teil der Industrie, den KMUs, ausrichtet, denn sie haben die Flexibilität, die jetzt für den Start ins digitale Zeitalter nötig ist. Wie die deutsche Industrie konkurrenzfähig bleibt? Der einzige Weg ist der Wandel zu digitalen, vernetzten Produkten und einer auf deren Daten basierenden Wertschöpfung. Aber davon ist sie in sehr weiten Teilen auch zehn Jahre nach dem Start der Initiative noch sehr weit entfernt. Welche Folgen hat die Künstliche Intelligenz? Die Frage zeigt das Unverständnis, das vielen FAZ-Artikeln zur KI zugrunde liegt. KI ist ein Werkzeug, und ein Werkzeug hat keine Folgen. Man kann es nutzen. In diesem Fall, wenn man weiß, was man der KI in der Industrie beibringen will.