Seite wählen

Die Begriffe Operational Technology (OT) und Information Technology (IT) standen für strikt getrennte Welten der Fertigungsindustrie. Dann gab es die These, es werde eine Konvergenz geben. Zuletzt war sogar von einem Verschmelzen die Rede. Stattdessen geschieht vermutlich etwas anderes: Die Begriffe werden obsolet. Denn Composable Software schlägt eine Datenbrücke zwischen Hardware und Software und ist weder auf OT noch auf IT beschränkt. Es wird spannend.

OT stand für die proprietäre, hardwarespezifische, häufig eingebettete Software für Maschinen und Geräte mit Speicherprogrammierbaren Steuerungen (SPS), auf Englisch Programmable Logic Controller (PLC), als Kern, aber auch für die Systeme, die der Visualisierung und Überwachung dienten. IT stand für monolithische Standardsoftwaresysteme zur Steuerung von Geschäftsprozessen wie Product Lifecycle Management (PLM), Enterprise Resource Planning (ERP) oder Manufacturing Execution Systems (MES).

Die traditionelle Automatisierungspyramide zeigt schon in ihrer Hierarchie und Vereinfachung, dass an dem Verhältnis etwas nicht stimmen kann. Aber der kleinere, höher eingeschätzte Bereich der IT bestimmte über lange Zeit ungeheure Investitionen und hatte ein eigenes Management. Die OT dagegen galt nicht einmal als ein Teil der IT.

Die Cloud kommt in den Shopfloor

Was ist geschehen? Microservice-Architekturen und Container-Cluster bringen die Technologie, die sich mit Cloud, KI und Smartphone in der Verbraucherwelt durchgesetzt hat, nun auch an die Maschine und den Motor. Wie das?

Das Analystenhaus Gartner hat 2022 den Begriff des „Composable Enterprise“ geprägt. Für die nötige Flexibilität und Agilität werde ein Unternehmen künftig aus kleinen, weitgehend unabhängigen Satelliten bestehen. Neben einer Zentrale vor allem für das Management der gemeinsamen Ressourcen. (Siehe dazu auch das jüngste Buch von Prof. August-Wilhelm Scheer „Composable Enterprise: agil, flexibel, innovativ“.)

Fertigungsunternehmen müssen ihre Fabriken demzufolge genauso digital und smart machen wie ihre Unternehmensorganisation. Schon bis 2025, so prophezeit Gartner in derselben Studie, werde mehr als 60 Prozent aller neuen MES Software aus offenen, leicht zusammensetzbaren Komponenten bestehen. In Anlehnung an „Composable Enterprise“ habe ich für entsprechende Software den Begriff „Composable Software“ geprägt. (Siehe dazu die Hintergrundserie „Composable Software“ auf diesem Portal.)

Das Entscheidende ist beim aktuellen Trend allerdings nicht die Technologie, die ihn möglich macht, oder wie man sie nennt. Entscheidend ist der Mehrwert, den die Industrie damit erzielen kann. Er liegt in der mit echtzeitfähigem Linux endlich gefundenen Möglichkeit, digitale Daten von Produkt und Produktion direkt zur Überwachung und Steuerung industrieller Prozesse zu nutzen. Inklusive des Fertigungsprozesses.

Sonderweg OT: Nicht mehr nötig

Der Sonderweg der OT hatte einen guten Grund. Keines der Computer-Betriebssysteme war echtzeitfähig. Bis vor wenigen Jahren galt dies auch für das offene Linux. Aber dann hat es die Community der Linux-Entwickler geschafft: Jetzt kann sich jeder mit Linux eine echtzeitfähige Laufzeitumgebung schaffen. Und schlagartig hat sich die Lage in der Fertigungsindustrie verändert. Denn für Maschinen, Antriebe, Steuerungen und Produktionsanlagen ist Echtzeit – oder zumindest Nahe-Echtzeit – ein absolutes Muss. Nicht für alles, aber für alles, was direkte Auswirkung auf die physische Produktion hat.

Der Sonderweg der auf SPS basierenden Automatisierung ab den Siebzigerjahren hatte großen Nutzen. Die weltweite Führungsposition der Fertigungsindustrie in Zentraleuropa, insbesondere des Maschinen- und Anlagenbaus sowie der Automobilindustrie, verdankte sich der besonderen Qualität dieser Automatisierung. Sie hat uns einen Rust-Belt wie im Nordosten und Fabrikruinenlandschaften wie in allen Teilen der USA erspart.

Die neuen Möglichkeiten der Microservice-basierten Software bieten nun eine doppelte Chance für einen erneuten Sprung der Fertigungsindustrie.

  1. Sie befreit von den unzähligen Hindernissen zwischen proprietärer Software in den heterogenen Maschinenparks.
  2. Sie macht die Industrie unabhängig von den großen Computer- und IT-Anbietern, und sie gibt auch ihren eigenen Kunden die Freiheit eigener Softwareentwicklung.

Revolution mit Spätzünder – Industrie 4.0 ist jetzt

Mit offenen, Linux-basierten Lösungen hat die Industrie im deutschsprachigen Raum nun begonnen, die Automatisierung der Fertigung zu digitalisieren. Smart Automation ist die praktische Realisierung der großen Versprechen von Industrie 4.0.

Daraus ist ein eigener Markt offener, Linux-basierter Plattformen entstanden. Er ist Gegenstand der Marktübersicht „Smart Automation“ und zahlreicher Nachrichten und Interviews hier auf Industrie-Digitalisierung. Die derzeitigen Anbieter und ihre Plattformen in der Marktübersicht sind:

Bosch Rexroth mit ctrlX AUTOMATION, Contact Software mit Elements for IoT, FLECS Technologies mit FLECS, German Edge Cloud mit ONCITE DPS, KEBA AG mit Kemro X, Lenze mit Lenze NUPANO, Phoenix Contact mit PLCnext Technology, SALZ Automation mit SALZ Controller, Siemens mit Industrial Operations X, TTTech Industrial Automation AG mit Nerve, WAGO mit WAGO OS und WAGO ctrlX OS, und Weidmüller mit easyConnect bzw. u-OS.

Mehr als zehn Jahre nach dem Start der Initiative Industrie 4.0 (und meinem ersten Buch mit diesem Titel) ist die Industrie mitten in der Umsetzung. Sie hat sich für den Start genau jenes Feld ausgesucht, in dem durch die Digitalisierung der größte und schnellste Mehrwert zu erzielen ist: die Fertigung selbst. Einschließlich der Services, die sich nun im Internet der Dinge (IoT) anbieten lassen.

Schon bevor Linux echtzeit-fähig wurde, hatte die Initiative Industrie 4.0 eine Standardisierung der Softwarearchitekturen in der Industrie vorangetrieben. Insbesondere die Verwaltungsschale (oder Asset Administration Shell (AAS)) wird derzeit gewissermaßen – und zwar über den deutschsprachigen Raum hinaus – zum Kommunikationsstandard von und mit Industrie-Geräten. So etwas wie eine API gibt es mit der AAS nun also auch für Maschinen, Geräte, Antriebe und Steuerungen, gleichgültig ob in der Cloud oder nicht. Und also kann jedes Industrieprodukt als Ding im Internet der Dinge eine API haben.

„All in One“ ist out!

Die IT der letzten Jahrzehnte war darauf ausgerichtet, ausgehend vom jeweils ursprünglichen Anwendungsgebiet möglichst viele weitere Funktionalitäten abzudecken und so einen immer größeren Kundenkreis zu gewinnen. An Interoperabilität der eigenen Software mit der Software anderer Hersteller waren die Anbieter wenig interessiert. Teilweise haben sie sich geradezu einen Namen damit gemacht, sie so weit wie möglich zu behindern und für alle Beteiligten so teuer wie möglich zu gestalten.

Auch wenn in der Vergangenheit von Plattformen die Rede war, bedeutete das normalerweise die Plattform eines Anbieters, von der sich die Kunden mehr oder weniger abhängig machten und auf der möglichst viel laufen sollte. Für die IT-Abteilungen in der Industrie bedeutete das, einen Großteil ihrer Arbeit darauf auszurichten, eigene Anpassungen an und Schnittstellen zwischen den Systemen verschiedener Hersteller über alle Releasewechsel am Laufen zu halten.

Jetzt kommt offene, zusammensetzbare und Cloud-native Software, für die nicht mehr eine einzige Plattform und auch nicht irgendein Hauptprogramm die Basis ist. Die neuen Apps funktionieren mit sehr großer Unabhängigkeit. Das Herunterfahren einer größeren Umgebung für ein Update einer solchen Software ist nicht notwendig. Für die alte Software war es unabdingbar.

Wenn die Anbieter der großen IT-Systeme eine Zukunft haben wollen und nicht nur auf ein Überleben mit Hilfe der Wartungsverträge setzen, müssen sie sich für Composable Software, für Cloud-Technologie, Container-Apps und API-Datenaustausch öffnen.

Teilweise sind solche Veränderungen bei den großen Anbietern in Gang. Teilweise versuchen sie sogar, ihre Systeme insgesamt neu zu designen und composable zu machen.

Auf der anderen Seite müssen traditionelle Maschinen- und Anlagenbauer überlegen, wie sie ihre laufenden Produkte auf die offene Systemwelt umstellen. Das kann bedeuten, dass ihre Softwarespezialisten über einige Zeit damit gebunden sind, proprietäre SPS durch eigene Linux-basierte Software zu ersetzen. Oder man macht die eigene Hardware durch den Wechsel auf eine standardisierte Laufzeitumgebung zukunftsfähig.

Beide Seiten der alten OT und IT sind vom Umbruch in der Automatisierung betroffen. Keiner kann mehr weitermachen wie bisher, ohne seine Wettbewerbsfähigkeit in Gefahr zu bringen.

Für die IT endet damit der jahrzehntelange Trend zu immer größerem Funktions- und Programmumfang auf einer monolithischen Basis, in die auch alle Zukäufe irgendwie integriert werden mussten. Und in der Industrie endet der meist ziemlich hoffnungslose Versuch der IT-Abteilungen, die implementierten Lösungen miteinander zu integrieren und effektiv zu nutzen.

Für die Automatisierungsanbieter und Maschinenbauer öffnet sich über Composable Software eine Welt digitaler Dienste für die Produktion und basierend auf Industrieprodukten, für die diese Unternehmen mehr und mehr selbst auch zum Softwareanbieter werden.

Opennes ist in!

In diesem großen Feld dessen, was sich vielleicht zu Recht als digitale Transformation bezeichnen lässt, bewegt sich die neue Marktübersicht Smart Automation, die ich mit 12 Anbietern eingerichtet habe. Ich bin davon überzeugt, dass hier ein sehr lebendiger Markt wächst. Da geht es nicht mehr in erster Linie um den Verkauf neuer Tools und Produkte, sondern zugleich um die Chance, eine moderne, zukunftsträchtige, nachhaltige und von Daten getriebene Industrie zu entwickeln.

Beispiel Bosch Rexroth und ctrlX AUTOMATION: Schon vor einem Jahr wurde aus einem Wettbewerber, nämlich dem Automatisierer WAGO, auch ein Partner. Denn WAGO bietet nun neben der Plattform WAGO OS auch eine Plattform WAGO ctrlX OS. Und wie der Name schon vermuten lässt, läuft sie auf dem offenen Betriebssystem von Bosch Rexroth. Im Juli 2024 wurde bekannt, dass Siemens Energy auf ctrlX CORE als Steuerung zur Orchestrierung dezentraler Energieerzeugungsanlagen und zur Verbindung in die zentrale Cloud setzt. Während Siemens selbst auch einer der Plattformanbieter in Smart Automation ist. Coopetition wird normal.

Beispiel German Edge Cloud (GEC): Die Produktion in der neuen Fabrik für kleine Schaltschränke in Haiger hat Rittal – wie German Edge Cloud ein Unternehmen der Friedhelm Loh Group – mit der neuen GEC Software ONCITE DPS gestalet. Mit dem Ergebnis ungewohnter Konnektivität und Transparenz der heterogenen, in den Produktionshallen eingesetzten Maschinen und Geräte. Gleichzeitig konnte ONCITE DPS als erstes System überhaupt eine Zertifizierung durch das automobile Zuliefernetzwerk CatenaX erreichen. Und mittlerweile ist es auch die Basis für Energie-Monitoring und weitere Anwendungen in der Produktion und für die Software RiZone OTM Suite zum Management von Rechenzentren.

In meiner Marktübersicht sind die Plattformen enthalten, die mir bekannt sind. Für Hinweise auf weitere Anbieter, die vielleicht meine Seite nicht kennen, bin ich dankbar. Die Beteiligung an der Marktübersicht ist kostenlos. Für eine Teilnahme öffne ich den Zugang auf die Online-Umfrage, auf der sie beruht.

Ich hoffe, dieser Artikel trägt dazu bei, über die neue Entwicklung in der Breite zu diskutieren. Das scheint mir sinnvoller und zielführender als weitere hoch-wissenschaftliche Debatten etwa über die Vormacht von ERP gegenüber PLM oder umgekehrt. Es geht nicht mehr darum, wie man mit der alten Software doch noch alles zum Laufen bekommt. Es geht darum, mit der neuen Technologie Industrie 4.0 zu machen.

Produktionshalle im Rittalwerk für kleine Schaltschränke in Haiger: Die riesigen Dashboards zeigen den Stand der Produktion in den verschiedenen Straßen in Echtzeit. (Bild Rittal)