Interview mit Georg Stöger, Director Training and Consulting
TTTech Industrial Automation AG arbeitet seit 2019 als eigenständige Firma unter dem Dach der TTTech, die 1998 als Spin-off der Technischen Universität Wien entstand. TTTech Industrial ist als Hersteller und Anbieter der offenen Edge-Computing-Plattform NERVE in der Marktübersicht Smart Automation und dort mit einer exklusiven Anbieterseite vertreten.
Georg Stöger, seit der Gründung 1998 bei TTTech und seit dem Start von TTTech Industrial als Technologieberater für Kundenprojekte und Entwicklung von NERVE tätig, gab Industrie-Digitalisierung sehr interessante Einblicke in die Welt der offenen Edge-Plattformen.
Ulrich Sendler: Herr Stöger, wie kam es zur Entwicklung von NERVE und der Gründung von TTTech Industrial?
Georg Stöger, Director Training and Consulting, TTTech Industrial (Foto Robert Fritz)
Georg Stöger: TTTech hat ursprünglich hochzuverlässige Echtzeitsteuerungen für Produkte im Automobil- und Luft- und Raumfahrtbereich hergestellt. Mitte der Zehnerjahre ergab sich dann eine Zusammenarbeit mit einem amerikanischen Start-Up aus dem Silicon Valley, das sehr viel Know-how in der Cloud und ein interessantes Portfolio im Edge-Computing hatte. Zusammen mit unserer Kompetenz in Echtzeit und Zuverlässigkeit sahen wir eine große Chance. Die Zusammenarbeit mündete in die Entwicklung von NERVE, das wir 2016 in den Markt brachten. 2019 wurde die TTTech Industrial dann als eigenständiges Unternehmen ausgegründet, mit Fokus auf Digitalisierung in der Produktion und sichere IIoT-Lösungen für die Industrie. Mittlerweile gehören schon viele Unternehmen, vor allem in der DACH-Region zu unseren Kunden.
Ulrich Sendler: Was war das Motiv für die Entwicklung der neuen Plattform?
Georg Stöger: Wir wollten der Industrie in der Breite eine Gesamtlösung für IIoT bieten. Tatsächlich haben wir uns damit einen ganz neuen Markt und einen neuen Kundenkreis erschlossen. Etwa Maschinenbauer, Hersteller von Kleinkraftwerken oder Gaskompressoren. Unternehmen, die im Zuge ihrer Digitalisierung für ihre Produkte Vernetzung und Cloud-Anbindung für die IoT-Fähigkeit ihrer Maschinen benötigen.
NERVE bietet eine sichere Basis dafür – sie ist als offene Linux-basierte Plattform mit zentralem Managementsystem ausgelegt und ermöglicht sicheren Fernzugriff und die sichere Einbindung von (Legacy-)Applikationen und Geräten verschiedener Hersteller. Außerdem sind Cyber Security-Features integriert und der Offline-Betrieb wird unterstützt. Durch die IEC 62443-4-1 Zertifizierung von TTTech Industrial können sich Kunden darauf verlassen, dass die Produktentwicklung und Prozesse des Unternehmens nach industriellen Cyber Security-Vorgaben erfolgen. NERVE ist bereits in der Produktzertifizierung nach IEC 62443-4-2, welche Ende 2024 abgeschlossen sein soll.
Ulrich Sendler: Warum verwenden Sie Linux als Basis?
„Weil Linux besonders offen ist“
Georg Stöger: Echtzeit-Linux war für die Industrie die Grundvoraussetzung. Es ist nicht die einzige Lösung und auch nicht notwendigerweise immer die beste. Aber es ist ein wichtiger Puzzlestein für das Thema Industrial Edge, weil Linux besonders offen ist, sehr viele Schnittstellen zu anderen Systemen hat und von der Community gut gepflegt wird.
Es war vor allem die Offenheit von Linux, die uns zur Entwicklung von NERVE ermutigt hat, obwohl die großen Automatisierer schon ähnliche Ideen verfolgten. Denn in den letzten Jahren hat sich etwas gedreht. Es ist keineswegs mehr allgemeines Denken in der Industrie, am besten alles aus einer Hand zu haben. Das Denken hat sich nicht nur aus Preisgründen gedreht, sondern auch wegen der Technologie. Schnelligkeit und Flexibilität sind nun einmal nicht die großen Stärken der ganz großen Anbieter.
Ulrich Sendler: Was heißt Offenheit in der Praxis?
Georg Stöger: Alles beruht auf Open Source, offenen Schnittstellen, offenen Betriebssystemen. Wir sind absolut hardwareunabhängig, damit der Kunde weiß, er könnte jederzeit den Industrie-PC wechseln, er könnte einzelne Teile austauschen, er kann zusätzliche Produkte oder Geräte anschließen. Wir wollen ihn durch die Qualität unserer Lösung und durch diese Offenheit gewinnen, nicht technisch an uns binden.
Ulrich Sendler: Welchen Anteil am Geschäft von TTTech Industrial macht NERVE aus?
Georg Stöger: Es ist seit der Gründung unser Hauptprodukt. Daraus kommt der größte Teil unseres Umsatzes und in NERVE fließt der größte Teil unserer Investitionen. Natürlich können wir auch Gesamtlösungen bieten, wenn das vom Kunden gewünscht wird. Dafür haben wir die Edge Industrie-PCs MFN 100 und MFN 200.
Aber das ist betrifft nur einen kleinen Teil unserer Kunden. Sehr viele haben ja ihre Geräte von anderen Herstellern im Haus und wollen eine Software, mit der sie sie integrieren können.
Nerve verbindet Industrieanlagen sicher miteinander und bietet Datenvisualisierung sowie Software- und Anwendungsmanagement über ein zentrales Managementsystem (Grafik TTTech Industrial)
Neue Geschäftsmodelle mit Apps unterstützen
Ulrich Sendler: NERVE ist eine Plattform für Apps auf Basis von Docker Containern. Bieten Sie das auch Ihren Kunden als Software as a Service?
Georg Stöger: Nein. Aber ein Kunde kann seinen eigenen App-Store gestalten, mit dem wiederum er seinen Kunden, also den Nutzern seiner Maschine, Apps anbieten kann. Für Maschinen-Monitoring, Software-Upgrades und anderes mehr. Über den eingebauten Codemeter von WIBU kann man sein App-Angebot lizensieren und damit sicherstellen, dass nur läuft, was auch bezahlt wurde. In der Robotik könnte es sein, dass die Hersteller nicht mehr die Roboter verkaufen, sondern – über Apps – die Leistung des Roboters. Das sind Geschäftsmodelle, die wir mit NERVE unterstützen möchten. Es gibt kein App-Business von uns, aber wir ermöglichen den Kunden mit NERVE, so etwas zu machen, einschließlich der Monetarisierung der Apps.
Die Möglichkeit, solche neuen Geschäftsmodelle anzubieten, ist aus meiner Sicht auch keine technische Frage. Der Digitalisierungsgrad in der Industrie, die Nutzung der Cloud, der Daten für Predictive Maintenance – das sind im Moment die Probleme. Die Industrie arbeitet jetzt an Themen wie Cloud und Apps, an denen die IT seit 20 Jahren arbeitet. Und erst wenn das für die Industrie selbstverständlich und vertraut ist, wird sie auf dieser Basis zu neuen Geschäftsmodellen mit den Kunden übergehen. Es gibt heute die ganze Bandbreite. Sehr, sehr fortschrittliche Firmen und solche, die gerade erst beginnen, das industrielle Internet der Dinge (IIoT) für sich zu entdecken.
Ulrich Sendler: Im Umfeld von offenen Plattformen spielen Ökosysteme eine wachsende Rolle. Wie sieht das Ökosystem von NERVE aus?
Georg Stöger: Wir haben Partnerschaften und arbeiten mit einer Reihe von Firmen zusammen. Den Microsoft IoT Edge Connector haben wir schon genutzt, bevor wir NERVE hatten, weil er bei vielen Kunden im Einsatz war. Oft probieren Unternehmen etwas aus, spielen mit einer Software, schauen, wie sie damit ihre Probleme lösen können. Wenn das einigermaßen klappt, suchen sie nach einer Plattform, um entsprechende Applikationen zu managen. Deshalb wurden wir früh zum Partner von Microsoft. Natürlich binden wir gewisse Siemens-Steuerungen und Protokolle an, weil die Kunden mit deren Produkten arbeiten. Mit etlichen kleineren Unternehmen arbeiten wir, wenn es um bestimmte Spezialthemen wie KI geht.
Ein institutionalisiertes Partnerprogramm haben wir zurzeit nicht. Das Thema offener Schnittstellen ist aus unserer Sicht für die Kunden wichtiger. Support von OPC UA, Docker, Kubernetes, Multi-Cloud-Fähigkeit, von solcher Offenheit profitieren die Kunden am meisten.
Ulrich Sendler: Wie stark kommt TTTech Industrial mit den anderen Anbietern der Marktübersicht Smart Automation in Berührung?
Georg Stöger: Wir kennen die anderen Anbieter natürlich, aber nicht alle sind in NERVE integriert – obwohl das relativ problemlos möglich wäre. Es kommt immer darauf an, was der Kunde braucht. Oft hat er ja schon eine Applikation, die er in einem System verwalten will. Solange keiner der Anbieter auf ein proprietäres System setzt, ist die Zusammenarbeit und Integration in einer Plattform dann kein Problem.
Drei Hauptbereiche der NERVE Entwicklung
Ulrich Sendler: Letzte Frage: Was können wir in der nächsten Zeit von TTTech Industrial erwarten? Wie sieht Ihre Roadmap aus?
Georg Stöger: NERVE ist schon seit einigen Jahren im produktiven Einsatz, und unsere Roadmap ist stark von Kunden getrieben. Wir entwickeln hauptsächlich Dinge, von denen wir hören, dass unsere Kunden das als Nächstes haben wollen. Da sind vor allem drei Bereiche zu nennen.
Erstens Cyber Security Features: Wer eine sichere Plattform haben und darüber sichere Produkte anbieten will, muss zuerst seine Entwicklung sicher machen. Das gab es früher nicht. Heute verlangen Standards wie IEC 62443, dass die Entwicklungsprozesse sicher sind. Hier investieren wir im Moment besonders viel. Das können nur wenige Hersteller bieten.
Zweitens die Virtualisierung: Die Industrie geht beide Wege: ARM-Prozessoren für die Low-Cost- und Low-Power-Devices, und Intel-Prozessoren für die integrierten Devices mit vielen Kernen. Wir haben festgestellt, dass direkt unten bei der Sensorik für eine bestimmte Funktion ARM besser, kosteneffizienter und zuverlässiger ist. Aber mit vielen Funktionen in einem Edge Computer, mit Datenbanken, Firewalls, Management, Hypervisor, potenziell zunehmend auch mit KI, braucht es einen Multicore-Prozessor, und da ist Intel führend.
Diese Zweiteilung mit unterschiedlichen Betriebssystemen zu unterstützen, einerseits eine schlanke, effiziente Variante von NERVE für ARM-Prozessoren, und andererseits eine hochleistungsfähige, virtualisierte, echtzeitfähige Lösung auf Intel-Prozessoren, das ist ein weiteres Element unserer Roadmap.
Und schließlich laufende Entwicklungen: Beispielsweise Web-basierte Visualisierungen mit integriertem Web-Browser für Tablet-basierte Anwendungen – derzeit haben wir circa 60 oder 70 Feature-Requests von Kunden, an denen die Entwicklung arbeitet. Das hat wenig mit der Basisplattform zu tun. Es sind kundenspezifische Erweiterungen, die wir dann auch in unsere Plattform integrieren.