Interview mit Steffen Winkler, Vertriebsleiter Business Unit Automation & Electrification Solutions, Bosch Rexroth
ctrlX AUTOMATION ist eine offene, Linux-basierte Automatisierungsplattform mit ctrlX OS als echtzeitfähigem Betriebssystem, dem ctrlX OS Store mit derzeit mehr als 80 Apps in 16 Hauptkategorien, und dem Partnernetzwerk ctrlX World mit schon mehr als 100 Partnern. Ein umfassendes Ökosystem, das in wenigen Jahren eine wichtige Position in der Welt der industriellen Automatisierung errungen hat.
In einem Gespräch mit Industrie-Digitalisierung erläutert Steffen Winkler Hintergründe und Strategie.
Erfolgreicher Start in schwieriger Zeit
Steffen Winkler, Vertriebsleiter Business Unit Automation & Electrification Solutions, Bosch Rexroth (Foto Sendler)
Ulrich Sendler: Herr Winkler, wann haben Sie mit der Entwicklung von ctrlX AUTOMATION begonnen? Und was war der Auslöser?
Steffen Winkler: Erste Überlegungen zu einer neuen Automatisierungsplattform gab es bereits 2017. ctrlX AUTOMATION haben wir 2020 auf den Markt gebracht. Ursprüngliches Ziel war eine Erneuerung unseres damaligen Automatisierungsportfolios, gleichzeitig wollten wir uns im Markt neu aufstellen und uns vom Spezialisten für Motion & Drives zu einem Anbieter umfassender Automatisierungslösungen entwickeln.
Ulrich Sendler: Warum auf Basis von Linux?
Steffen Winkler: Wir haben gründlich recherchiert und uns mit vielen Zukunftsszenarien auseinandergesetzt. Für Linux haben wir uns entschieden, weil es viele Eigenschaften mitbringt, die für uns sehr wichtig sind: Echtzeitfähigkeit, Sicherheit, die Architektur der Microservices. Wir wollten die Entwicklung und Pflege unserer eigenen Software einfacher machen. Uns war klar, dass das mit einem weiteren geschlossenen System nicht möglich ist, egal wie gut es wäre.
Unsere Motion- oder CNC-Steuerungen waren beispielsweise über viele Jahre gewachsene Monolithen, deren aufwändige Pflege wir gewährleisten mussten. Hier wollten wir dringend auf eine Microservice-basierte Architektur wechseln, um schneller, besser und dezentraler entwickeln zu können. Und die hieß Linux.
Ulrich Sendler: Ich höre aus manchen Unternehmen, dass für solche Entscheidungen oft auf der oberen Ebene des Managements die Unterstützung fehlt. Wie war das in Ihrem Fall?
Steffen Winkler: Unser Start auf der SPS 2019 war phänomenal. Die sehr positive Resonanz hat uns begeistert. Aber dann begann mit Corona eine schwierige Zeit. Messen und persönliche Kommunikation mit den Kunden fanden nicht statt. Und obwohl wir schnell und erfolgreich auf digitale Alternativen umgeschaltet hatten, kamen auch noch Lieferengpässe für Chips und zahlreiche elektronische Bauteile hinzu. Wir haben dann allerdings festgestellt, dass wir mit unserer modernen Hardwarearchitektur weniger Herausforderungen bei der Beschaffung hatten als mit den alten Systemen.
Die insgesamt schwierige wirtschaftliche Lage war auch intern eine Herausforderung, denn wir mussten genau in dieser Zeit sehr viel investieren. Aber man hat damals erkannt, welche enorme Bedeutung das System für das gesamte Unternehmen hat. Im Bosch-Werk Blaichach haben wir es bei der Fachpressekonferenz im September gezeigt: Es ist ein echter Wettbewerbsvorteil. Und der wurde erkannt. Wir konnten mehr investieren, und das hat die Entwicklung nochmals beschleunigt.
Großes Interesse auch in neuen Bereichen
Ulrich Sendler: Hat sich die Entwicklung aus heutiger Sicht bereits ausgezahlt?
Steffen Winkler: Wir sehen uns maximal darin bestätigt, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Das Investment in die Plattform war also absolut richtig. Allein der Zuspruch von über 100 Partnern und bislang über 2000 Kunden ist schon ein klarer Beweis dafür.
Ulrich Sendler: Haben Sie mit der Plattform schon neue Märkte erreicht?
Steffen Winkler: ctrlX AUTOMATION eröffnet uns den Zugang in für uns neue Märkte, auch ganz abseits vom Maschinenbau. Unser „Claim“ ist heute die „industrielle Automatisierung“ und nicht nur die Fabrikautomation. Die neue Plattform ist seit einigen Jahren auch in der Gebäudeautomation, in der Energietechnik, bei Infrastruktur oder Lagerlogistik im Einsatz. Alles Bereiche, in denen wir vorher nicht tätig waren.
Die meisten ctrlX CORE Steuerungen in diesen neuen Einsatzfeldern haben wir bisher in der Gebäudeautomation verkauft. Aktuelles Beispiel aus dem Bereich der Energietechnik ist Siemens Energy. Dies zeigt, dass wir mit der ctrlX AUTOMATION Plattform einen Schlüssel zur Erschließung neuer Märkte besitzen.
Bereits über hundert Partner nutzen die Plattform ctrlX AUTOMATION in zahlreichen Anwendungsfeldern (Foto Sendler).
Unsere Steuerungssysteme für Motion, Robotik und CNC haben bereits zuvor einen großen Markt in der Fabrikautomation abgedeckt. Doch durch die Attraktivität der neuen Plattform stoßen wir nun in völlig neuen Bereichen auf großes Interesse.
Ulrich Sendler: Auch Ihr Partnernetzwerk ctrlX World wächst seit Beginn der Entwicklung der Plattform. Was ist das Besondere daran?
Steffen Winkler: Das Partnernetzwerk ctrlX World erweitert den Lösungsbaukasten rund um ctrlX AUTOMATION um Hardware und insbesondere Software in Form von Apps. Pepperl + Fuchs etwa bringen einen IO-Link-Master und einen RFID-Scanner in das Lösungsangebot ein. Wir stellen gemeinsam sicher – und das ist das Prinzip der ctrlX World – dass ein Anwender diese Kombination einfach in seine Applikation integrieren und verwenden kann.
Für den Anwender ist das vom Engineering-Blickwinkel aus durchgängig integriert. Im Beispiel: Der IO-Link-Master bekommt in der Oberfläche unseres ctrlX Data Layers einen eigenen Knoten, der sichtbar wird, wenn das Gerät angeschlossen und vom System erkannt wurde. Ähnlich wie wenn Sie ein USB-Gerät mit dem PC verbinden, und nach ein paar Sekunden taucht im Explorer das Device auf. Früher hätte man einen PLC-Funktionsbaustein schreiben müssen, der den IO-Link-Master anspricht, Daten ausliest, Daten bereitstellt – das war sehr aufwändig.
Diese Partnerwelt steht jedem offen. Wir tragen lediglich dafür Sorge, dass auch ein echter Kundennutzen entsteht. Bei der ctrlX World steht hinter jedem Logo mindestens ein echter Use-Case, manchmal sogar mehrere. Wir schauen darauf, Lücken im Lösungsangebot dieses Ökosystems zu schließen. Letztes Jahr lag der Schwerpunkt bei Robotik, dieses Jahr auf Vision.
Vielversprechende Kandidaten für Partnerschaft
Steffen Winkler mit dem ctrlX Team und zahlreichen Partnern (Foto Sendler).
Ulrich Sendler: Wodurch unterscheidet sich das Partnernetzwerk ctrlX World von dem vergleichsweise recht kleinen Netzwerk von Partnerunternehmen für das Betriebssystem ctrlX OS?
Steffen Winkler: Wir gehen bei der Partnerschaft für unser Betriebssystem sehr gezielt vor. Unser Fokus liegt auf Anbietern von Automatisierungskomponenten, die ein komplementäres Angebot bereitstellen, um so das Lösungsportfolio für die Anwender zu erweitern. Wir suchen Partner mit einer starken Marktpräsenz, vorzugsweise in Märkten, in denen wir selbst wenig vertreten sind. Eine feste Größe für unser Partnernetzwerk gibt es nicht. Wichtig ist, dass das Angebot in unser Markt- und Technologieumfeld passt und Potenzial bietet. Aktuell sind wir in Gesprächen mit mehreren vielversprechenden Kandidaten.
Ulrich Sendler: Offenheit ist eines der zentralen Schlagworte bei Plattformen wie ctrlX AUTOMATION. Was bedeutet Offenheit für Bosch Rexroth? Wie funktioniert die Zusammenarbeit auf der Plattform?
Steffen Winkler: Für Bosch Rexroth bedeutet Offenheit im Kontext von ctrlX AUTOMATION, dass wir eine Plattform schaffen, die den Anwendern maximale Flexibilität bietet. Offenheit bedeutet, dass ctrlX AUTOMATION vollständig herstellerunabhängig ist und sowohl unsere eigenen Lösungen als auch die von Drittanbietern integriert werden können. Kunden können frei wählen, welche Komponenten und Softwarelösungen sie in ihre Automatisierungsprojekte einbinden möchten.
Die Zusammenarbeit auf der Plattform funktioniert durch unser offenes Ökosystem – die ctrlX World. Hier arbeiten wir eng mit Partnerunternehmen zusammen, die ihre Lösungen und Apps in unser System integrieren. Die Partner erweitern unser Angebot mit komplementären Produkten, die den Mehrwert für den Anwender vergrößern. Entwickler können ihre eigenen Apps auf der Basis von ctrlX OS erstellen und über unser System bereitstellen. Diese Offenheit fördert Innovationen und ermöglicht es, maßgeschneiderte Automatisierungslösungen schnell und effizient umzusetzen.
Gut andocken und kommunizieren statt noch ein System
Ulrich Sendler: Mit der offenen, Linux- und Microservice-basierten Plattform stoßen Sie ja dem Zusammenwirken von OT und IT neue Türen auf. Wie sehen Sie die Zukunft des Verhältnisses von ctrlX AUTOMATION und Unternehmens-IT wie ERP, PLM und MES?
Steffen Winkler: Wir haben nicht vor, solche Lösungen neu zu erfinden. In der Industrie existieren sehr, sehr viele solcher Systeme, gerade im MES Bereich, teilweise industriespezifisch, manche auch von einzelnen Maschinenbauern selbst entwickelt und vermarktet. Da werden wir nicht noch eins entwickeln.
Unsere Strategie ist, möglichst gut anzudocken, daher sind einige dieser Anbieter auch ctrlX World Partner. Mit Konnektoren in Form von Apps ist der Datenaustausch mit solchen Systemen einfach – sowohl aufgrund der Architektur als auch im Sinne der IT-Security.
ctrlX OS ist bereit für die Security-Anforderugen der kommenden Jahre (Foto Sendler)
Langfristig steigt der Druck auf die mittlere Softwareschicht wie MES. Meine persönliche Sicht: Früher oder später wird sie entfallen, weil sie nicht mehr notwendig ist.
Der große Wert des Ökosystems
Ulrich Sendler: Unterstützen Sie mit Ihrer Plattform auch das App-Business Ihrer Kunden?
Steffen Winkler: Absolut. Wir entwickeln selbst Apps – aktuell machen unsere eigenen Anwendungen etwa die Hälfte der Apps im ctrlX OS Store aus. Darüber hinaus bieten wir auch die Apps unserer ctrlX World Partner über den Store an. Diese werden von uns umfassend validiert, getestet und auf ihre Sicherheit und Performance geprüft. Zudem stellen wir die komplette Infrastruktur bereit, inklusive Monetarisierungsmöglichkeiten.
Das ist ein entscheidender Vorteil, insbesondere für OEM-Partner wie WAGO. Sie profitieren nicht nur vom Betriebssystem und dem App-basierten Konzept, sondern auch vom Zugang zum ctrlX OS Store, einem Lizenzserver und einer wachsenden Community von mittlerweile mehreren tausend Nutzern. Die Neutralität der Plattformelemente sorgt dabei für eine einfache und flexible Nutzung.
Auch Maschinenbauer, die ihre eigenen Apps entwickeln, profitieren. Diese Apps können entweder exklusiv ihren Kunden angeboten oder im Store veröffentlicht werden.
Mit ctrlX AUTOMATION eröffnen wir neue Geschäftsmodelle. Über den gesamten Lebenszyklus einer Maschine hinweg kann der Hersteller zusätzliche Services anbieten. Neue Softwarelösungen können jederzeit hinzugefügt werden – ähnlich wie bei Smartphones. Das ermöglicht es, in fünf Jahren Software zu nutzen, die heute noch nicht existiert. Unsere Plattform liefert die Werkzeuge, um solche zukunftssicheren Lösungen auch in der Industrie umzusetzen.
Steffen Winkler eröffnet die 6. Fachpressekonfrenz zu ctrlX AUTOMATION (Foto Sendler)
Ulrich Sendler: In der Pressekonferenz in Blaichach haben Sie gesagt, dass der Anteil der Software am Geschäft von Bosch Rexroth immer größer wird. Liegt das auch an neuen Geschäftsmodellen?
„In der Industrie so noch nie angeboten“
Steffen Winkler: ctrlX AUTOMATION, ctrlX OS, ctrlX World – das ist für uns natürlich ein neues Geschäftsmodell. Der Anteil an Software, den wir verkaufen, steigt – das ist richtig. Das Geschäft skaliert, weil immer mehr Geräte auf ctrlX OS laufen, und nicht nur unsere eigenen. Eine weitere Skalierung findet über die Apps im Store statt.
Das hört sich an, als wäre es nichts Besonderes. Aber in dieser Form und Ausprägung wurde das unseres Wissens so in der Industrie noch nie angeboten.
Ulrich Sendler: Überall herrscht Personalmangel. Ist das für die Weiterentwicklung von ctrlX AUTOMATION ein Hindernis?
Steffen Winkler: Der Fachkräftemangel ist sicherlich eine Herausforderung, aber für die Weiterentwicklung von ctrlX AUTOMATION sehen wir darin kein unüberwindbares Hindernis. ctrlX AUTOMATION bietet eine offene und flexible Umgebung, die es Entwicklern ermöglicht, ihre Ideen und Lösungen schnell umzusetzen. Dieses offene Konzept zieht nicht nur neue Talente an, sondern fördert auch die Zusammenarbeit in unserer ständig wachsenden Partner-Community.
Ein weiterer Vorteil ist unser internationaler Ansatz. Wir arbeiten in einem globalen R&D-Verbund, mit Standorten rund um die Welt. Das gibt uns Zugang zu einem breiten Talentpool und ermöglicht es, Expertise aus verschiedenen Regionen zusammenbringen. Durch diese globale Zusammenarbeit können wir Innovationen schneller vorantreiben und unterschiedliche Perspektiven in unsere Entwicklungen einfließen lassen.
Hinzu kommt, dass wir stark von der Partner-Community profitieren, die einen erheblichen Teil zur Weiterentwicklung der Plattform beiträgt. Das ist das Prinzip unserer offenen Plattform: Wir nutzen nicht nur unsere eigenen Ressourcen, sondern auch die Ideen und Lösungen unserer Partner, um gemeinsam die besten Ergebnisse zu erzielen. So können wir den Fachkräftemangel abfedern und weiterhin auf hohem Niveau innovieren.
Ulrich Sendler: Welche Rolle spielt die KI in Zusammenhang mit ctrlX AUTOMATION?
Steffen Winkler: Eine zunehmend wichtige Rolle. Aktuell haben wir bereits erste Anwendungen im Einsatz, wie zum Beispiel bei unserem Kunden Kohlbacher, der gemeinsam mit uns eine KI-basierte Lösung auf Basis von ctrlX AUTOMATION entwickelt hat. Diese Anwendung nutzt Prozessdaten aus der Schärfung von Sägeblättern, um die Richtprozesse zu optimieren – ein Schritt, der vor der Automatisierung manuell von sogenannten “Sägedoktoren” durchgeführt wurde.
Auch in der Softwareentwicklung und im Engineering, etwa bei der Erstellung von SPS-Code, hat sich in letzter Zeit durch KI sehr viel verändert. Anwender aus der Industrie erwarten zunehmend dieselbe intuitive Bedienung, die sie aus der Konsumwelt kennen. So könnte in naher Zukunft ein KI-Assistent beispielsweise auf die Frage „Wie behebe ich Fehler XY beim Antrieb ctrlX DRIVE?“ in Sekundenschnelle die passenden Schritte zur Fehlerbehebung liefern, anstatt langwierig Dokumentationen zu durchforsten oder bei der Hotline anzurufen. Diese Art der intelligenten Unterstützung wird bald eine klare Erwartungshaltung in der Industrie sein.
Ulrich Sendler: Geben Sie zum Schluss einen Ausblick, was wir in den nächsten Jahren aus Ihrem Haus erwarten können?
Steffen Winkler: Der Automatisierungsbaukasten ctrlX AUTOMATION, das Partnernetzwerk ctrlX World und ctrlX OS, das wir auch mit anderen Automatisierern teilen – in diesen drei Feldern wird es intensive Weiterentwicklung geben. Und KI wird sicher eins der technologischen Themen sein, um die wir uns kümmern, und zwar in sehr vielen möglichen Feldern. Mehr will ich noch nicht verraten.
(Bosch Rexroth wird sein aktuelles Angebot vom 12. bis 14.11. auf der SPS in Nürnberg vorstellen, Halle 7 Stand 450.)