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Mit einem gemeinsamen Artikel in der FAZ vom 28.3.2021 haben sich zwei der drei Initiatoren von Industrie 4.0 geäußert, wo sie das Projekt rund zehn Jahre nach dem Start sehen. Sehr weit vorn! Aber der Artikel zeigt, dass sie dabei die alten Maßstäbe anlegen. Effizienzsteigerung welcher Prozesse auch immer ist nicht mehr das richtige Kriterium. Aber neue Geschäftsmodelle mit produktbasierenden Diensten sind auch 2021 absolute Mangelware. Sie tauchen im Artikel nur ganz am Rande auf. Ich suche Mitstreiter für einen neuen Anlauf.

Zweimal habe ich im letzten halben Jahr versucht, Unternehmen zu finden, die sich als Vorreiter in Sachen Digitalisierung oder digitale Transformation der Industrie positionieren wollen. Ich habe dafür sogar eine Domain www.digital-industry.org gesichert. Zweimal ist die Suche im Sand verlaufen. Die Domain wird vorläufig nicht gebraucht.

Plattform I 40Ganz offensichtlich sind sehr viele Firmen in Deutschland – wie übrigens auch in Japan – schon sehr weit, was die Digitalisierung ihrer Prozesse betrifft. Vom Engineering bis zum Supply Chain gibt es kaum Arbeitsschritte, die nicht schon mit ziemlich weitgehender Automatisierung aus den Kinderschuhen der IT-Unterstützung heraus wären. Industrie 4.0 wird in vielen Unternehmen umgesetzt.

Selbstfahrende Stapler, taktunabhängige Produktionsinseln, Werkstücke, die mit Drohnen durch die Halle zur Maschine fliegen – die Zukunft hat tatsächlich vielerorts Einzug gehalten.

Aber die wichtigsten neuen Dienste sind dabei die automatisierten alten: Vorausschauende Wartung statt Wartung im Störfall. Und das soll es gewesen sein? Damit sollen die Nachhaltigkeitsziele erreicht werden, die der Klimakatastrophe entgegenwirken und Ressourcen schonen? Jeder weiß, dass das zu wenig ist.

Die modernsten Industrien der Welt funktionieren immer noch nach dem Prinzip: entwickeln, herstellen, verkaufen – und das so oft wie möglich, weil nur so der Mehrwert geschöpft werden kann, der diese Industrien am Leben hält. Das Prinzip Wachstum wird nach wie vor nur in manchen Talkshows in Frage gestellt. Nicht in den Chefetagen der Konzerne, nicht in den Verbänden, nicht in den Regierungen.

Der einzige Weg, von dieser Art der die Zukunft gefährdenden Industrie wegzukommen und hin zu einer, die im Einklang mit der Natur und den Menschen Geschäfte macht, besteht in der Schaffung neuer Geschäftsmodelle, die in der Hauptsache auf produktbasierenden Diensten beruhen. Dienste, die zusätzlich zur Waschmaschine, zum Auto, zur Verpackungsmaschine angeboten werden. Dienste aufgrund von Produkten, die von vornherein mit dem Ziel entwickelt wurden, solche Dienste zum Kern der Umsätze zu machen.

Kagermann WahlsterWas aber schreiben Kagermann und Wahlster über Industrie 4.0? Zum Beispiel dies:

„Die Vision überzeugte, weil sie für Wirtschaft und Gesellschaft erheblichen Fortschritt versprach. Ökonomisch ging es initial um einen Wechsel von der traditionellen Automatisierung mit vorherbestimmtem Ergebnis hin zu lernenden und sich selbst anpassenden Maschinen und Umgebungen, die in Echtzeit auf Änderungen der Kundennachfrage sowie auf unerwartete Störungen reagieren. Damit einher geht der Schritt von der Massenproduktion zur Maßanfertigung, zur preislich konkurrenzfähigen Herstellung von individuellen, maßgeschneiderten Produkten.“

Das ist nichts anderes als die Reduzierung der digitalen Transformation auf die intelligentere Nutzung der IT für eine weitere Steigerung von Produktionseffizienz. Dass so nicht nur Massenproduktion gut und gewinnträchtig beherrscht wird, sondern auch ihre individualisierte Form, ändert am Prinzip industriellen Wirtschaftens – nichts.

Einen Schritt weiter führe nun die Künstliche Intelligenz, wird in dem besagten Artikel weiter ausgeführt:

„Mit der industriellen KI wird eine zweite Welle der Digitalisierung der Produktion möglich. Die erste Welle, die alle Daten der Produktion und der Lieferketten digital und mobil über Cloud-Systeme verfügbar macht, ist weitestgehend abgeschlossen. Diese Daten können durch KI-Systeme nun in Echtzeit analysiert und im Kontext interpretiert werden, so dass sie aktiv für neue Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodelle nutzbar sind.“

Da spricht vermutlich der ehemalige Leiter des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI), Wolfgang Wahlster. Er hat schon immer dazu geneigt, die Marketingblasen aus seinen Instituten mit der industriellen Wirklichkeit zu verwechseln. Ich erinnere mich, wie er 2014 am Institut für Produktionssysteme (IPS) in Dortmund mit solcher Rede in einer Konferenz auf heftigen Widerstand aus den Reihen der Praktiker stieß. In der Pause sagte er mir, sie hätten ja recht. Er sei eben der Theoretiker. Immerhin ehrlich. Aber ein Theoretiker muss nichts behaupten, was durch die Praxis Lügen gestraft wird.

Zu behaupten, „die erste Welle, die alle Daten der Produktion und der Lieferketten digital und mobil über Cloud-Systeme verfügbar macht, ist weitestgehend abgeschlossen“, ist schlimmer als Augenwischerei. Landauf und landab höre ich nur, dass viele Unternehmen solche Schritte ins Auge fassen möchten, aber nicht die geringste Ahnung haben, wie das mit ihren Produkten und ihrer Produktion gehen soll. Ganz abgesehen davon, dass viele der Cloud immer noch nicht trauen. Schon gar nicht, wenn sie nicht ihre Server um die Ecke installiert hat.

Und wenn sie eine Idee haben, die sich lohnen könnte, dann stoßen sie auf die noch viel größere Skepsis und fehlende Akzeptanz auf der Seite ihrer Kunden. Die haben nun über Jahrzehnte gehört, „Geiz ist geil!“. Wen wundert, dass das Wirkung hat? Dienste aus der Cloud sollen sich so kostenlos anfühlen wie die aus dem Silicon Valley. Aber mit Diensten auf Basis mit hohen Kosten entwickelter und produzierter mechatronischer Produkte und smarter Maschinen geht das nicht.

Ein neuer Anlauf ist nötig, um nach Industrie 4.0 den nächsten Schritt zu gehen: die Umstellung von materieller zu immaterieller Wertschöpfung. Ich habe dazu einen kleinen Text formuliert: „Industriepolitik – Die Zeit drängt!“ Die Grafik zum Text stammt aus meinem Buch „Industrie 4.0 grenzenlos“ von 2016 und ist so aktuell wie vor fünf Jahren. Ich suche Mitstreiter.