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Zehn Jahre hat die Initiative Industrie 4.0 schon hinter sich. Eine Plattform wurde gegründet, Standards wurden gemeinsam definiert und erfolgreich getestet. Pilotprojekte gab es in Hülle und Fülle, und zahlreiche Ansätze sind bereits produktiv, wenn auch fast ausschließlich im Bereich von Produktion, Wartung und Logistik. Dass es nicht weiter vorankommt, liegt vor allem daran, dass der Mittelstand nicht im Boot ist. Praktisch wurden die Bedürfnisse der KMUs nicht berücksichtigt.

Die Digitalisierung der Fertigungsindustrie war mit der Einführung von IT in allen Abschnitten der Wertschöpfungskette, also mit der Digitalisierung der vorhandenen Prozesse und Arbeitsschritte, keineswegs beendet. Auch wenn die Industrie am Standort Deutschland (bzw. D,A,CH) dabei besonders erfolgreich war und ist. Kaum irgendwo – abgesehen von Japan und der Elektronikbranche generell in Asien – sind Prozesse und Produkte so weitgehend digitalisiert wie bei uns. Aber es sind eben noch die alten Produkte und die alten Prozesse digitalisiert. Neue Geschäftsmodelle – das Geschäft mit Daten und Diensten auf Basis vernetzter Produkte – sind kaum irgendwo zu sehen. Und wenn sie schon da sind, wird mit ihnen noch wenig Geschäft gemacht. Viel zu wenig.

Woran das liegt? Die Henne Industrie muss eine bestimmte Größe haben, um ein Ei wie Industrie 4.0 und die zugehörigen Standards zu legen. Das verlangt Forschung, und dafür muss ein Unternehmen, selbst wenn es mit öffentlichen Instituten und Einrichtungen zusammenarbeitet, wenigstens ein oder zwei Mitarbeiter haben, die sich vor allem darum kümmern. Exakt die Hälfte aller Industrieunternehmen hierzulande hat weniger als 50 Mitarbeiter. Diese Mitarbeiter werden alle für das laufende Geschäft, für Produktentwicklung und Produktion gebraucht. Für die Forschung ist da keiner übrig. Von den gesamten F&E Aufwendungen in der Industrie entfallen nur 13 Prozent auf Firmen mit weniger als 500 Mitarbeitern (Industrielle Wertschöpfungsketten – Wie wichtig ist die Industrie?, BDI 2013, S. 17). Die Industrie-Henne braucht also offenbar eine Größe von vielen Hundert oder Tausend Mitarbeitern, um Industrie-4.0-Eier zu legen und auszubrüten.

Nun sind sie gelegt, die Küken geschlüpft. Aber sie wollen nicht wachsen und sich selbst vermehren. Das Problem ist, dass die großen Unternehmen – auch mit Hilfe von Fördergeldern – zwar die Standardisierung vorantreiben und Industrie 4.0 zu einer gewissen Reife bringen können. Aber wirklich Realität wird Industrie 4.0 erst, wenn nicht einzelne Unternehmen jeweils für sich damit arbeiten, sondern die erweiterte Wertschöpfungskette einbezogen ist. Und darin spielen die KMUs eine ziemlich entscheidende Rolle.

In der zitierten Studie des BDI wird der Erfolg des industriellen Mittelstands in Deutschland darauf zurückgeführt, dass „er sich auf die Fertigung individueller und hochwertiger Nischenprodukte spezialisiert hat.“ Und dabei bedient er häufig „regional eingegrenzte oder sehr spezialisierte Märkte“. Ein großer Werkzeugmaschinenhersteller bekommt von einem KMU die Halterung für die Schneidplatte, von einem anderen das Werkzeug selbst, von einem dritten die Spannvorrichtung. Der große Automatisierungsanbieter stellt die Antriebe für Maschinen und Geräte her, aber für die elektrische Verbindung sorgt eher ein KMU.

Die kleinen Unternehmen hierzulande sind hervorragend darin, ihre hochwertigen Nischenprodukte zu entwickeln und zu produzieren. Das kann auch bedeuten, dass sie einen digitalen Zwilling von diesen Produkten nutzen und mit dem Produkt liefern. Aber oft hört das Systemdenken eben beim eigenen Produkt auf. Das eigene Nischenprodukt wird vielleicht schon als System gesehen, es wird mit Sensoren und Aktoren bestückt, Software und Vernetzung spielen bei seiner Funktion eine wachsende Rolle. Aber die Gesamt-Systemsicht auf das Endprodukt, auf die Maschine, die Anlage – das ist meist Sache der großen Hersteller. So aber funktioniert Industrie 4.0 nicht.

Jedes Produkt ist künftig ein System unter Systemen. Nur, wenn diese übergeordnete Systemperspektive von allen in der Industrie eingenommen wird, lassen sich neue Geschäftsmodelle, lassen sich Plattformökonomie und Wertschöpfungsnetzwerke erfolgreich implementieren. Dass das Großunternehmen die Verwaltungsschale von Industrie 4.0 beherrscht, nutzt wenig, wenn seine vielen kleineren Lieferanten damit nichts anfangen können.

Wir stehen also an einem wichtigen Punkt mit der digitalen Transformation der Industrie. Die ungeheure Mehrheit der kleinen und mittleren Unternehmen muss mit allen erdenklichen Mitteln dabei unterstützt werden, den Schritt in die digitale Industrie zu machen. Nicht nur für das spezielle Nischenprodukt, sondern als wahrscheinlich wichtigster Partner in einem industriellen Plattform-Ökosystem, das der Welt nach dem E-Commerce nun auch die E-Produkte und die zugehörigen Dienste mit industrieller Qualität bieten wird. Wenn das gelingt, wird das Gerede vom abgehängten Zentraleuropa in Sachen Internet sehr schnell aufhören. Hier ist nämlich viel mehr Geld zu verdienen als über Handy und Notebook.

Ein anderes Thema für einen separaten Artikel soll wenigstens schon erwähnt sein: Starkregen-Katastrophen wie soeben in Ahrweiler und im chinesischen Henan, eine Pandemie wie die mit Covid-19 und die digitale Unfähigkeit der Administration dabei – die hauptsächlich durch unser bisheriges ausschließlich auf kurzfristiges Wachstum ausgerichtetes Wirtschaften verursachte Gefährdung unserer Lebensgrundlagen und unseres Lebens lässt sich nur stoppen, wenn vor allem die Industrie die Nachhaltigkeit an die erste Stelle setzt. Ohne ihre digitale Transformation wird das nicht gehen.