Der Vorstandschef der Deutschen Messe Jochen Köckler zum Abschluss der diesjährigen Industriemesse: „In den fünf Tagen sind die 4000 Aussteller hier auf rund 130.000 Besucherinnen und Besucher aus aller Welt getroffen.“ Im Vergleich zu den 75.000 Menschen vom Vorjahr immerhin fast eine Verdopplung. Aber verglichen mit den 200.000 Besuchern von vor Corona immer noch mau. Etliche Hallen waren gar nicht belegt, in anderen gab es noch viel Platz.
Wie 2022 wurden bei digitalen Veranstaltungen zusätzlich 15.000 Teilnehmer gezählt. Manche Aussteller äußerten die Vermutung, dass es vielleicht auch dieses sogenannte hybride Angebot war, das ein wirkliches Durchstarten in diesem Jahr bremste. Wenn der Chef weiß, man kann auch am Bildschirm wichtige Informationen bekommen, ist der Daumen für die Reise nach Hannover möglicherweise unten. Aber gerade der persönliche Austausch ist das, was die Messe ausmacht.
Einige langjährige Aussteller von Rang und Namen, etwa die Hannoveraner Aucotec oder ABB samt zahlreichen Partnern, haben der Messe den Rücken gekehrt. Wohl eher aus grundsätzlichen Erwägungen. Die anwesenden Aussteller aber hatten vom ersten Tag an volle Stände und trafen auf Besucher mit reichlich Gesprächsbedarf. Die Diskussion über das Für und Wider entsprechender Großveranstaltungen geht weiter. Ich werde dazu zeitnah Interviews mit einigen Unternehmen veröffentlichen.
Industrie übernimmt Treiberrolle für Innovation
Wenn mich nicht alles täuscht, war diese Messe auch Ausdruck einer wichtigen Veränderung hinsichtlich Innovation und Digitalisierung. Waren es rund 30 Jahre lang vor allem die IT-Anbieter, die mit immer neuen Softwarelösungen die industrielle Innovation befeuerten, traf ich in diesem Jahr fast überall auf neue Produkte und Dienste, die sich in erster Linie auf eigene Entwicklung und vor allem auch auf eigene Software stützten. Und wo die IT-Anbieter Großes zeigten, standen die Prozesse und Innovationen ihrer Kunden im Mittelpunkt. Einige Beispiele für viele:
Projektleiter Dr. Jan Reimann beim Vorstellen von Flender One (Foto Sendler)
Die Getriebe des Herstellers Flender International aus Bocholt haben sich über Jahrzehnte zu einer Art Industriestandard entwickelt. Nun stellte Geschäftsführer Andreas Evertz mit Flender One eine Plattform vor, die aus dem Stand passgenaue Getriebelösungen konfiguriert. Höchst individuell, jedes Getriebe anders, und trotzdem so schnell wie in der Serienfertigung. Die Software hinter der Konfigurationslösung, die aus Tausenden von Komponenten die für den jeweiligen Kundenbedarf optimal zugeschnittene Komposition liefert, ist eine Eigenentwicklung. Und natürlich wird die Weiterentwicklung der Grundelemente des Getriebes in Zukunft zu weiteren Konfigurationsmöglichkeiten führen.
Der für elektrische Verbindungstechnik bekannte Anbieter Weidmüller in Detmold hat seit einigen Jahren eine eigene Softwareabteilung mit inzwischen rund 250 Spezialisten der Division Automation Products and Solutions in Paderborn in der Zukunftsmeile. Das jüngste Angebot: easyConnect, ein cloudbasierter Service mit verschiedenen Softwarelösungen, die Industrieunternehmen eine sehr einfache Verbindung ihrer Maschinen, Nutzung und Analyse der anfallenden Daten sowie Steuerung und Wartung der Geräte über den gesamten Lebenszyklus versprechen. Industrial IoT und andere digitale Dienste als Eigenentwicklung.
Phoenix Contact stellt derzeit den Weg zur „All Electric Society“ in den Mittelpunkt der Aktivitäten. Dazu gab es erst im April ein ausführliches Interview in der KEM. Dabei werden ganz konkrete Schritte der Kunden im aktuell massiven Aus- und Umbau ihrer Infrastrukturen zur Verteilung und Speicherung dezentral gewonnener, regenerativer Energie und Elektrifizierung aller Sektoren ins Visier genommen. Auf dem Messestand gab es einen Spezialbereich, der sich ganz dem Thema Effizienz im Schaltschrankbau, einer effizienten Prozesskette vom Design über die Produktion bis zum Betrieb elektrischer Schaltschränke widmete. Mit eigener Software, um aus den digitalen Daten der Prozesse unmittelbaren Nutzen für den Kunden zu generieren. Wie groß der Bedarf an mehr Effizienz gerade in diesem Bereich ist, zeigte der enorme Besucherandrang an allen Einzelstationen.
Neuformierung der Anbieter von Industrie-IT?
Siemens Digital Industries Software führte die internationale Pressekonferenz zum zweiten Mal in Halle 9 auf dem eigenen Stand durch, unmittelbar neben den ausgestellten Lösungen. Cedrik Neike stellte die strategische Partnerschaft mit dem Kunden FREYR Battery ins Zentrum.
Eine breite Palette von Lösungen aus dem Xcelerator-Portfolio mit Product Lifecycle Management (PLM), Manufacturing Execution Systems (MES), Industrial Edge Computing und Tools für IT/OT-Konnektivität werde unter anderem beim Bau von zwei Gigafabriken für die Batterieproduktion in Norwegen und den USA zum Einsatz kommen. Siemens vermarktet das umfassende IT-Portfolio derzeit unter dem Banner von Industrial Operations X.
Cedrik Neike (rechts), CEO von Siemens Digital Industries Software und Mitglied des Vorstands der Siemens AG, stellt Tom Einar Jensen, Mitgründer und CEO von Freyr Battery, vor. (Foto Sendler)
Tom Einar Jensen, Mitbegründer und CEO von Freyr, nannte die „Automatisierungs- und Digitalisierungskompetenz von Siemens in Verbindung mit den einzigartigen Fähigkeiten von AWS und Nvidia“ einen grundlegenden Schritt, um „die KI oder digital verbesserte elektrochemische Zelldesign- und Fertigungsprozesse“ schnell nutzen zu können, die er als „die nächsten Grenzen in der Batterieproduktion“ identifiziert.
Neben der Partnerschaft mit Freyr präsentierte Siemens mit Simatic S7 1500V die erste virtuelle Maschinensteuerung, ebenfalls Teil von Industrial Operations X. Die Stärke von Siemens ist die Breite der inzwischen unter einem Dach angebotenen Hard- und Softwareprodukte für alle industriellen Kernprozesse. Und die Tatsache, dass Siemens selbst ein Industrieunternehmen ist, das all diese Produkte auch im eigenen Haus nutzt.
Gut besuchter Gemeinschaftsstand der Friedhelm Loh Group (Foto Sendler)
Auf dem Gemeinschaftsstand von Rittal, Eplan, Cideon und German Edge Cloud konnten sich Besucher und Partner unter dem Motto „Connecting ecosystems. Smarter“ nicht nur live davon überzeugen, dass das im letzten Jahr vorgestellte ONCITE Digital Production System sich in der Praxis etwa im Smart Factory Vorzeigewerk von Rittal in Haiger bewährt, sondern auch kräftige Impulse zur Entwicklung weiterer cloudbasierter Services auf Basis offener Standards geliefert hat. Besucher konnten auf dem Stand der gesamten Prozesskette von Produktdesign über Produktionsplanung und Produktion folgen, aber zugleich auch an jedem Knoten der Kette in die Tiefe gehen.
Wer hätte vor wenigen Jahren gedacht, dass die Friedhelm Loh Group zu einem zentralen Player nicht nur hinsichtlich der Automatisierung von Schaltschrankbau und Rechenzentren, sondern auch in Sachen cloudbasierter Industriesoftware wird?
Fazit:
Mein Resümee der diesjährigen Industrieschau: Ob Anbieter von Standardsoftware oder Cloud-Service, ob Maschinenbauer oder Anbieter von Elektrik/Elektronik, die effiziente digitale Automatisierung der industriellen Prozesse, ihre nachhaltige Elektrifizierung und die Nutzung offener Standards wie Linux und Kubernetes sowie Künstlicher Intelligenz standen fast überall Pate für erfolgreiche Messeauftritte. Composable Software setzt sich durch, auch ohne dass darüber groß geredet wird.