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2022 war die Hannover Messe wieder da. 2.500 Aussteller waren zwar nur etwa die Hälfte aus Vor-Pandemiezeiten, und auch 75.000 Besucher ergaben keine Jubelzahl für 75 Jahre Hannover Messe. Dennoch waren die meisten Beteiligten zufrieden, dass die Messe wieder stattfand. Für die spezielle Branche der Industriesoftware-Anbieter gab es dabei viel Neues, das allerdings deutlich schwerer zu finden war. Und das hatte mit der Pandemie nichts zu tun. Überhaupt war auf der Messe von einer Rückkehr zur Normalität nicht viel zu spüren. (alle Fotos Sendler)

Dass die Hannover Messe mit kleineren Ausstellerzahlen aufwartete, hat niemanden gewundert. Allein 1.300 Aussteller aus China fehlten im Vergleich zu 2019, weil die Null-Covid-Strategie Xi Jinpings ihnen den internationalen Auftritt unmöglich machte. Leere Stände zum Beispiel in Halle 9, fast auch ohne Personal, vermittelten den Eindruck einer Phantom-Wirtschaftsmacht, was natürlich absolut nicht der Realität entspricht.

Durch Wände waren zahlreiche Bereiche in vielen Hallen abgetrennt. So hatte man trotz der geringeren Besucherzahl fast den Eindruck von früher. Viel los, gute Gespräche, und überall spürbare Erleichterung, dass Menschen mit Menschen reden konnten, statt am Bildschirm Videos zu betrachten.

Nach zwei Jahren Zwangspause stach die Veränderung im Bereich der Industriesoftware ins Auge, als hätte sie schlagartig von einem Tag auf den anderen stattgefunden. In der Halle 4, vor drei Jahren noch eine von damals mehreren Haupthallen für diese Branche, hatten sich die Reihen gelichtet. Große Stände von Autodesk, Dassault Systèmes und SAP stachen hervor, und auch Google ließ sich nicht nehmen, neben Microsoft seinen Anspruch auf eine Rolle in der Industrie auch mit einem großen Stand zu untermauern. Amazon Web Services stellte nebenan in Halle 5 aus. Aber was man vergeblich suchte, waren etwa Stände von Siemens und Eplan. PTC hatte ja schon seit einiger Zeit kein Interesse mehr an einem eigenen Auftritt und war in diesem Jahr an mehreren Ständen von Industriekunden mit Demos vertreten.

Bei Siemens ist ein jahrelanger Streit um einen gesonderten Industriesoftwarestand getrennt vom Hauptstand offenbar entschieden. Siemens Digital Industries Software wurde zum Teil des großen Siemens-Auftritts in Halle 9, und der Besucher musste schon nach den einzelnen CAD- und PLM-Exponaten suchen. Der Eindruck, als sei die Software für die industriellen Kernprozesse tatsächlich zum integralen Bestandteil des Gesamtangebots an Hard- und Software des Industrieriesen Siemens geworden, spiegelt indes nicht wirklich wieder, wie getrennt die verschiedenen Bereiche nach wie vor agieren.

Bei Eplan wurde im Rahmen einer Presseveranstaltung genau diese Integration betont. Eplan sieht seine Produkte nicht mehr als Stand Alone Angebot, sondern im Rahmen der Gesamtstrategie der Loh-Gruppe. Die Presseveranstaltung war denn auch ein gemeinsamer Event von Rittal, Eplan, Cideon und German Edge Cloud, den Geschwisterunternehmen der Loh-Gruppe.

Es scheint eine größere Veränderung in der Branche zu geben. Offenbar ist sie nach rund 30 Jahren Aufstieg an einem Punkt, an dem mehr oder weniger alle Player nach einer Neuorientierung suchen. Und dabei geht es nicht um die Art der Lizenz und die Nutzung der Cloud. Einfach durch den Kauf einer Standardsoftware erreicht wohl heute kein Industrieunternehmen mehr einen Wettbewerbsvorteil.

Das Zusammenwirken von Hard- und Software für neuartige Dienstleistungsgeschäfte tritt immer mehr in den Vordergrund. Ebenso die gemeinsame Nutzung und der Austausch industrieller Daten über die Grenzen proprietärer Systeme hinweg. Gutes Beispiel: Cybus Connectware aus Hamburg, ein noch sehr junges Unternehmen, war neu in der Halle 4. Solche Beispiele werden vermutlich zahlreicher in den kommenden Jahren. Die Innovation der Industrie spielt sich auf einer Vielzahl von Feldern ab, in denen noch völlig unbekannte IT-Anbieter ganz neuartige Lösungen bieten.

Die Hannover Messe hat sich in den letzten zehn Jahren zum Messemotor der industriellen Digitalisierung gemausert. Auch hier wurde allerdings nicht geschafft, die aus verschiedenen Gründen stark gebremste Digitalisierung in den kleinen und mittelständischen Unternehmen spürbar anzuschieben. Da hilft auch die mutwillige Um-Definition von Mittelstand nicht weiter. Auch dann nicht, wenn ein Wirtschaftsmedium wie das Handelsblatt am 30.5.22 schrieb: „Den Kern der Messe bilden allerdings Industrieunternehmen wie Siemens, Bosch oder Schneider Electric. Auch der industrielle Mittelstand, vom Roboterhersteller Festo über die Beckhoff-Gruppe bis zu Phoenix Contact, ist stark vertreten.“ Festo und Phoenix Contact mit je mehr als 20.000 Mitarbeitern und die Beckhoff-Gruppe mit 4.500 Mitarbeitern als industriellen Mittelstand zu bezeichnen, ist Unfug. 95 Prozent der deutschen Industrieunternehmen haben weniger als 500 Mitarbeiter. Das ist der Mittelstand der Industrie.

Diese Größenordnung hat keine Lobby, auch nicht auf der Messe und in den sie tragenden Verbänden BDI, ZVEI und VDMA. Deutlich wurde das in der Drei-Verbände Pressekonferenz am Messemontagmorgen, bei der übrigens anfangs keine 20 Pressevertreter gezählt wurden und gegen Ende knapp 40. Auf meine Frage, was der BDI zu tun gedenke, um die digital nach wie vor abgehängten industriellen KMU bei ihren Digitalisierungsanstrengungen zu unterstützen, antwortete BDI-Präsident Prof. Siegfried Rußwurm: „Ich teile nicht die Einschätzung, dass der Mittelstand hier weit hinterherhinkt. Es ist nicht so, dass die mittelständischen Unternehmen in Deutschland Händchenhalten brauchen, weder von ihren Verbänden noch von der Politik.(…) Lassen Sie uns aufhören, einen Gegensatz zwischen KMU und großen Konzernen zu konstruieren. Das Erfolgsrezept der deutschen Industrie ist, dass diese beiden Unternehmensgruppen, wenn man sie schon so nennen will, ganz symbiotisch zusammenarbeiten.“ Was war doch gleich meine Frage? Was der BDI zu tun gedenkt. Die in den salbungsvollen Worten nicht ausdrücklich gegebene Antwort Rußwurms: Nichts.

Dr. Gunther Kegel, Präsident des ZVEI und Vize von Rußwurm im BDI, untermauerte die Nichtexistenz von Digitalisierungsproblemen im Mittelstand, indem er auf sich selbst als gutes Beispiel eines Mittelständlers hinwies. Gemeint ist das von ihm geführte Unternehmen Pepperl+Fuchs, das derzeit 5.900 Mitarbeiter zählt. Laut statistischem Bundesamt sind alle Unternehmen mit mehr als tausend Mitarbeitern Großunternehmen. Davon gab es in Deutschland laut Statischem Jahrbuch 2019 genau 697. Sie und nur sie haben in den Verbänden und in der Politik eine Stimme.

Erschreckend ist nicht, dass die Lobbyisten das nicht wahrhaben wollen. Das Erschreckende ist, dass Deutschland auch in der industriellen Digitalisierung auf die 99 Prozent der kleineren Unternehmen angewiesen ist. Der Standort Deutschland wird andernfalls in Sachen digitale Transformation in die Bedeutungslosigkeit versinken. Für die Chef-Lobbyisten bleibt da sicher noch eine Zukunft. Für die Industrie insgesamt sieht es eher düster aus.

Dennoch: Es wird wieder spannend auf der Hannover Messe, die ab dem nächsten Jahr wieder Ende April stattfinden soll, wenn Corona sich an diese Vorgabe hält. Viele kleine und junge Innovatoren gehen an den Start und können das Bild insgesamt verändern. Es wird wieder lohnen, sich dieses Bild in Hannover anzuschauen.