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Mit meinem Artikel „Kagermann und Wahlster irren – Die Digitalisierung der Industrie stockt“ vom 27. April des Jahres habe ich anscheinend ins Schwarze getroffen. Offenbar ist sehr vielen Menschen klar, dass sich auch zehn Jahre nach dem Ausrufen von Industrie 4.0 in Deutschland wenig bis nichts grundlegend geändert hat. Die Digitalisierung der Industrie verlangt danach, einen neuen, in der Industrie noch nie beschrittenen Weg einzuschlagen: von der materiellen zur immateriellen Wertschöpfung. Das funktioniert nur, wenn die Industrie selbst es zur Chefsache macht. Aber anders als bisher.

Immer noch heißt industrielle Wertschöpfung auch in Deutschland fast ausschließlich Produktherstellung und -verkauf. Dienstleistungen auf Basis industrieller Produkte sind kaum erfunden geschweige denn verfügbar und spielen noch eine völlig unbedeutende Rolle. Was für Smartphone und PC längst selbstverständlich ist, ist bei Industrieprodukten für die meisten Menschen nicht einmal zu denken. Weil es das noch nicht gegeben hat, ist es auch schwer vorstellbar. Das Internet der Dinge ist nach wie vor hauptsächlich ein Marketing-Spruch.

Hinzu kommt: In zahlreichen Unternehmen hat das Controlling seit Jahren wieder die lauteste Stimme. Nicht erst seit Corona. Wenn in der Technik, in Entwicklung und Produktion oder in der Strategieplanung jemand die Digitalisierung auf die Agenda setzt – und das tun derzeit viele – dann heißt es seit Jahren von Betriebswirten und Finanzvorständen aus ihrem Quartalsdenken heraus: „Ja klar. Ganz wichtiges Thema. Und welche Kosten streichen wir dafür in der Entwicklung? Und was sparen wir an Geld und Zeit in der Produktion?“

Das ist fatal. Denn ohne die kontinuierliche Weiterentwicklung der mechatronischen High-End Produkte, mit denen Deutschland zum Exportweltmeister wurde und deren Qualität sie heute in der ganzen Welt so beliebt macht wie in der Mitte des letzten Jahrhunderts US-amerikanische – sie würden genauso schnell an Marktwert verlieren wie der Cadillac und der ganze American Way of Life in den letzten dreißig Jahren.

Screenshot: Mein LinkedIn Post am 27.4.2021 und das Feedback

Ein Produktdesign, das Mehrwertdienste ermöglicht

Wir brauchen beides: Produkte, die perfekt funktionieren und sich mit allem und jedem vernetzen lassen. Produkte, deren Daten zum Quell neuer Werte für die Nutzer wie für die Gesellschaft werden. Beispiel Mobilität: Ein Fahrrad, ein E-Scooter, ein Roller oder Motorrad, ein Auto, ein öffentliches Nahverkehrsmittel, ein Fernzug, ein Flugzeug – jedes dieser Produkte und alle dafür benötigten Komponenten könnten in einen Dienst eingebunden sein, der hilft, dass Menschen den kürzesten, schnellsten, sichersten, energieefiizientesten und bequemsten Weg finden. Mit den für den jeweiligen Wegschritt umweltverträglichsten Transportmitteln. Mobilität stünde nicht mehr im Gegensatz zur Klimaneutralität.

Das wird der Gesellschaft und den Nutzern der Produkte und Dienste viel wert sein. Dafür müssen aber die Produkte und Dienste von Grund auf so ausgelegt sein, dass sie diesen Wert auch bieten können. Mit der bisherigen Form der Digitalisierung – der kontinuierlich verbesserten IT-Nutzung zur effizienteren Automatisierung aller Prozesse im Unternehmen – geht es offensichtlich nicht. Auch wenn das nach wie vor ganz hohe Priorität hat. Schließlich hängt ja noch eine Weile der Hauptteil des Umsatzes davon ab.

Es gibt noch ein weiteres Problem bei der herkömmlichen Art der Digitalisierung: Die verbliebenen großen Anbieter von Industriesoftware – Dassault Systèmes, PTC, SAP und Siemens – reduzieren mehr oder weniger drastisch die Eigenständigkeit des Marketings in Deutschland. Budgets werden zunehmend in den USA oder in Paris bestimmt. Nach meiner langjährigen Erfahrung heißt das aber: Die Entwicklung ihrer Software orientiert sich immer weniger an den konkreten Bedürfnissen der hiesigen Industrie, ganz besonders der mittelständischen. Dass dies jetzt selbst für Siemens Digital Industries Software gilt, ist erschreckend.

Übrigens zeigt gerade Siemens, dass auch dort unter End-to-End-Digitalisierung vor allem die klassische Produktwertschöpfung verstanden wird. In der Unendlichkeitsschleife, die die digitalisierte Wertschöpfung symbolisiert (Bild: Screenshot Siemens Homepage), kommt produktbasierende Dienstleistung gar nicht vor.

Hinzu kommt, dass die traditionellen IT-Anbieter für die Industrie heute nur einen Teil der benötigten Software-Lieferanten ausmachen. Mindestens so wichtig sind die Anbieter von Cloud-Infrastruktur, Machine Learning und Künstlicher Intelligenz. Sie sind aber für die Verantwortlichen in den Industrieunternehmen meist immer noch nur ganz am Rande ihres Blickfelds. Hier stimmt die Gewichtung nicht.

Zusammen tun!

Mit der Lösungsfindung ist es ähnlich wie bei Covid-19: Wer darauf wartet, dass die Verbände, zuständigen Organisationen und politisch Verantwortlichen kluge, gut durchdachte und für alle hilfreiche Entscheidungen treffen und die optimale Richtung vorgeben, stellt fest, dass dafür oft das Fachwissen und in vielen Fällen – etwa im Großwahljahr 2021 – auch die Bereitschaft fehlt.

Die Industrie, die selbst aktiv ihren digitalen Umbruch gestaltet, wird sich die Verantwortlichen an den Tisch holen und ihnen sagen müssen, was sie an welcher Stelle dringend braucht. Diesen runden oder eckigen Tisch zu organisieren, ist jetzt mein Angebot. Dazu gibt es eine Art Manifest auf meiner Homepage. „Ich habe einen Traum: Digital Industry Circle“. Denn der gemeinsame Tisch soll mehr sein. Er soll die Grundlage sein für den Austausch der Verantwortlichen miteinander und mit Forschung, Lehre und IT-Anbietern aller Art.

Ich suche aktuell nach denen, mit denen ich den Anfang mache. Wer ein Chef ist, der dazu gehören will, oder wer einen solchen hat oder kennt – ich freue mich auf Namen und Kontakte. Digitalisierung muss unbedingt Chefsache werden. Ganz anders, als wir bisher Chefsache definiert haben. Gestaltend. Verantwortlich. Nicht nur für die Zukunft des eigenen Unternehmens. Auch für die Zukunft des Industriestandorts.