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Wenn nicht alles täuscht, erleben wir gerade den Übergang von Industrie 4.0 in die betriebliche Realität. Als 2011 mit der öffentlichen Vorstellung dieser Initiative als Ziel eine „Smart Factory“ genannt wurde, war das – abgesehen von Modellfabriken wie in Kaiserslautern – noch fast so theoretisch wie die berühmten Cyber Physical Systems, von denen heute kaum noch jemand spricht. Aber das, was sich derzeit in den Fabriken tut, ist definitiv eine ganz reale Transformation zur Smart Factory. Die Automatisierung erreicht eine neue Stufe. Sie wird nicht mehr programmiert. Sie ist auf dem Weg zur dynamischen Selbststeuerung mit Hilfe von Daten.

Dabei fällt auf, dass die Vorreiter weder die Konzerne der Automobilindustrie noch die großen IT-Anbieter sind, die in den vergangenen Jahrzehnten mit ihrer Software die Innovation der industriellen Prozesse befeuert haben. Es sind Firmen, die bislang eher durch hochwertige Produkte aufgefallen sind, mit denen sie es an die globale Spitze der Industrie geschafft haben.

Bosch Rexroth hat sich einen großen Namen mit Antrieben und Steuerungen in der modernen Automation gemacht. Rittal ist einer der Weltmarktführer für Schaltschränke und modulare Rechenzentrumseinheiten. Phoenix Contact feierte 2023 ein hundertjähriges Bestehen als Hersteller von Komponenten und Systemen für Elektrotechnik, Elektronik und Automation. Weidmüller wurde vor allem bekannt als Anbieter von elektrischer Verbindungstechnik und Elektronik. Es sind diese vier, die seit ein paar Jahren nicht nur auf Messen für Unruhe sorgen: mit ctrlX AUTOMATION (Bosch Rexroth), ONCITE DPS (Rittal, German Edge Cloud), PLCnext (Phoenix Contact) und easyConnect (Weidmüller).

Diese Softwaresysteme sind Eigenentwicklungen. Alle setzen auf Cloud-Technologie und Microservices. Die Systeme bestehen aus Container-Apps. Offenheit, Modularisierung und Standardisierung sind zentrale Prinzipien. Was hier aus der Fertigungsindustrie kommt, ist Composable Software, die sich anschickt, den sogenannten Legacy Systemen das Leben schwer zu machen und sie zu einer Offenheit zu bringen, die ihnen fremd ist.

Weidmüller auf der SPS 2023 mit dem neuen Automatisierungsbetriebssystem u OS (Foto Weidmüller)

Zuallererst gilt das für die Standardsoftware, die unter dem Kürzel MES (für Manufacturing Execution Systems) im Markt ist.

Composable Software versus starre Monolithen

MES galt bislang als das wichtigste Tool zur Digitalisierung der automatisierten Fertigung. Nun kommen in der Industrie selbst entwickelte Systeme auf den Markt, die in der digitalen Automation viel weiter gehen als die alten MES-Lösungen. Aber vor allem haben sie eine Architektur, die modern, grenzenlos skalierbar und so flexibel ist, dass sie in der Praxis der Industrie-Produktion Agilität erlaubt. In genau jenem Bereich also, in dem Veränderung in der Vergangenheit besonders kritisch beäugt und oft am liebsten verhindert wurde. Zu gefährlich war es für die industrielle Wertschöpfung, wenn hier etwas nicht mehr wie geplant lief.

Aber die Zeiten haben sich in wenigen Jahren so geändert, dass es gar nicht mehr anders geht, als genau hier eine grundsätzliche Änderung in Angriff zu nehmen. Die Energie ist nicht mehr so billig und einfach zu haben, wie dies vor dem Ukraine-Krieg für normal gehalten wurde. Das Klima ist nicht mehr möglicherweise demnächst vor einem Kollaps, sondern verlangt Sofortmaßnahmen, und das bedeutet zusätzlich zu höheren Energiekosten auch eine drastische Energiewende. Obendrein erwartet die Gesellschaft und fordern deshalb auch die Gesetzgeber gerade von der Industrie neue Produkte und vor allem neue Wege der klimaneutralen Produktion.

Wie soll das mit einer Art der Digitalisierung funktionieren, wo man ein bis eineinhalb Jahre benötigt, um eine Änderung in der Standardsoftware lauffähig zu haben? Wie sollen Daten in Nahe-Echtzeit zur Steuerung der Fertigung genutzt werden, wenn die Software solche Daten gar nicht verarbeiten kann? Wie sollen möglichst schnell alle Komponenten einer Produktionsanlage im kontinuierlichen Blick und Steuerungszugriff der Verantwortlichen sein, wenn jede Komponente ihre eigene Embedded Software mitbringt und von Cloud und Apps eine ganze Technologie-Generation entfernt ist?

Microservices werden auch in der Industrie Standard

Blick in eine mit ONCITE DPS gesteuerte Produktionshalle von Rittal in Haiger (Foto Rittal)

Das sind die handfesten Gründe, die die genannten Firmen und ihre Lenker dazu bringen, mit Composable Software einen anderen Weg einzuschlagen. Wie ich mich im Rittal-Werk in Haiger mit eigenen Augen überzeugen konnte, ist das ONCITE DPS Konzept innerhalb weniger Jahre erfolgreich in die Praxis umgesetzt, bei ersten Partnern wie Schuler im Einsatz und war von CatenaX als erstes System überhaupt zertifiziert. Und nur die nachweisliche Umsetzbarkeit sorgt auch bei Bosch Rexroth dafür, dass die Zahl der Partner im Ökosystem unaufhörlich steigt. Und dafür, dass namhafte Firmen wie Dell Technologies, Kuka, Nokia und Wago nun auch auf das Betriebssystem ctrlX OS setzen.

Microservices, Cloud-native Apps und Services sind also – mit der zu erwartenden Verzögerung gegenüber der Informatik generell – nun auch in der Industrie angekommen. Das ist eine gute Nachricht. Aber damit ist die Front gegen diese Architektur und Technologie und das immense Beharrungsvermögen in der Fertigungsindustrie noch nicht gebrochen.

Die Vorreiter gehen – Bosch Rexroth ist hier eine Ausnahme – sehr vorsichtig an den Markt. Eben wie Industrieunternehmen, bei denen die praktische Erprobung zählt, und nicht wie IT-Anbieter, die gerne schon Jahre vor der Zeit mit ihren Features und Functions Marketing betreiben.

Und auch die Anwender sind – wir reden fast ausschließlich von einem B2B-Markt – Industrieunternehmen und gewohnt, sehr gründlich zu schauen, auf welche neuen Werkzeuge und Methoden sie sich einlassen. Es hat lange gedauert, bis sie in der Breite die lange verfügbaren Softwaresysteme installiert und für ihre Zwecke nutzbar gemacht haben. Was bekanntlich fast immer bedeutete, sie durch Zusätze, Veränderungen und Schnittstellen untereinander an ihre konkreten Anforderungen anzupassen. Jetzt diesen mühsam errungenen Status der Digitalisierung ihrer Prozesse durch neue Architekturen, neue Technologien und neue Partner zu ersetzen – das wird kein Spaziergang.

Aber bei allem Verständnis für diese Situation ist doch klar, dass die Veränderungen – in der Welt, der Umwelt und in der Gesellschaft – der Industrie gar keine Wahl lassen. Die alten Systeme und Methoden erlauben nicht die Umsetzung dessen, was die Industrie jetzt in Angriff nehmen muss. Die neuen Systeme schon. Der Weg zum Composable Enterprise, den Gartner vor einigen Jahren ausgeschildert hat und den Prof. August-Wilhelm Scheer jetzt in seinem Buch „Composable Enterprise: agil, flexibel, innovativ“ (Springer Verlag) beschreibt, er kann nur über Composable Software führen.

Die alten Systeme müssen sich anpassen. Das Mindeste ist die Unterstützung der Internet-Standards für Lauffähigkeit und Datenaustausch, also der im Internet standardisierten Application Programming Interfaces (API). Aber wenn sie in der weiteren Entwicklung eine ernstzunehmende Rolle spielen wollen, werden sie in ihren Grundfesten eine gehörige Zerlegung in Apps und Microservices erfahren müssen. Dazu sind möglicherweise nicht alle bereit oder fähig. Aber die alte Rolle spielen sie schon jetzt nicht mehr. Zu starr, zu wenig flexibel für die schnellen Zeiten, von agil keine Rede.

Debatte zu theoretisch

Die Debatte über die Zukunft der Fabrik wird theoretisch und ziemlich abseits der praktischen Entwicklungen geführt. So als gäbe es eine Wahl, wie die alten Systeme von ERP, PLM bis MES neu sortiert und geordnet werden können.

Die Neujustierung der Werkzeuge der Industrie-Digitalisierung braucht keine Automatisierungs-Pyramide mehr, denn die kleinen, flexiblen Microservices ordnen sich schneller selbst in einen Prozess, als die alten Systeme sich ändern lassen. Die neuen Systeme lassen sich auch ganz leicht neben die und mit den alten implementieren. Wobei sich vermutlich zeigen wird, dass dann die eine oder andere Legacy Software gar nicht mehr gebraucht wird.

Von den langjährigen IT-Marktführern heben sich derzeit vor allem zwei ab: Contact Software hat bereits vor über zehn Jahren begonnen, das eigene CIM Database PLM System zu modularisieren und in eine moderne Architektur, die Contact Elements Plattform, zu überführen. Im derzeitigen Status ist CIM Database als Cloud-Software am Markt und bietet erfolgreich ein Pay-per-Use Lizenzmodell.

Steffen Winkler stellt auf der SPS 2023 die mittlerweile 12 Produktlinien der ctrlX AUTOMATION vor (Foto Sendler)

Und bei Siemens Digital Industries Software ist die Öffnung in Richtung Microservice am deutlichsten sichtbar in der neuen Automatisierungs-Plattform Opcenter X, mit der Siemens Apps für das Manufacturing Operations Management (MOM) bietet. Auch hier ist offensichtlich die Automatisierung der Fertigung der Bereich, in dem die Nutzung der neuen Architekturen vorangetrieben wird.

Die derzeitige Entwicklung ist insgesamt ermutigend. Aber die Industrie am Standort Deutschland und im deutschsprachigen Raum muss auch aktiv weiter ermutigt werden, die neuen Architekturen als Lösung ihrer großen Probleme der Zeit zu begreifen und zu ergreifen. China wird nicht darauf warten, ob sie das erfolgreich tut. Die USA sind ohnehin bereits weithin unangefochtene Herrscher über die Cloud, das Internet und die moderne KI. Wenn die Industrie ihre jetzige Chance nicht sieht, droht sie abzurutschen zu einem billigen Lieferanten von Hardware. Das Kerngeschäft der Automatisierung könnte sie dann verlieren.