Seit Jahren ist die Rede von der digitalen Transformation der Industrie. Was das für die produzierenden Unternehmen bedeutet, womit sie künftig ihren Umsatz machen und wie sie dahin kommen sollen, wird selten angesprochen. Derzeit deutet sich an, dass sich erst einmal vor allem die Rollen der Beteiligten verändern. Die Großindustrie verliert möglicherweise ihre Führungsrolle, während die kleinen und mittelständischen Unternehmen an Bedeutung gewinnen.
Industrie 4.0, Smart Factory, Internet der Dinge – die Liste der Schlagworte ist lang und sagt doch nichts darüber aus, was sich tatsächlich abspielt. Aufmerksamen Beobachtern, die sich nicht mit Verbandsmitteilungen und Marketing-Statements von Vorständen zufrieden geben, fallen Ereignisse auf, die in ihrer Häufung innerhalb weniger Monate und Jahre ein neues Bild der Industrie in Deutschland und Zentraleuropa ergeben.
Die Zerschlagung von ThyssenKrupp (im Bild die erst 2015 fertiggestellte neue Zentrale) in mehrere Unternehmen oder ihr kompletter Verkauf ist seit Ende 2018 im Gang. Sicher ist derzeit nur, dass einer der ältesten und größten Konzerne Deutschlands nicht mehr existieren wird. Mit der verbliebenen Masse an Kapital und Besitz ist offenbar anders – als Einzelteile verkauft – mehr Profit zu machen.
Ebenfalls 2018 musste GE das Scheitern des Großprojekts der industriellen Dienstplattform GE Predix mit dem Verkauf abschließen. Ob GE selbst diesen gescheiterten Wandel längerfristig überlebt, ist keineswegs ausgemacht.
Anfang 2020 bekam ABB nicht nur einen neuen CEO. Aus den vier zuvor noch zusammenhängenden Divisionen wurden vier Business Areas, die wiederum in momentan 21 operativ weitgehend selbstständige Divisionen zerlegt sind. Die zentrale Forschung und Entwicklung von ehemals mehr als 1.000 Experten ist aufgelöst, und auch der Posten des Chief Digital Officers, der erst kurze Zeit vorher eingerichtet worden war, ist wieder abgeschafft. Der große zentraleuropäische Konzern für Energie, Robotik und Automatisierung zerlegt sich gerade selbst in verkaufbare Einheiten.
Geht den Lokomotiven der Dampf aus?
Das sind Namen, die noch vor wenigen Jahren erhebliches Gewicht hatten, wenn es darum ging, die Entwicklung der Industrie in Europa und der Welt zu skizzieren. Und zwar sowohl die Entwicklung der Branche der diskreten Fertigung als auch der von Anlagenbau und -betrieb. Anscheinend haben sie die digitale Transformation nicht nur nicht erfolgreich geschafft. Die Entwicklung hat sie überflüssig gemacht.
Für viele in der Industrie, die mit Hilfe von Informationstechnik-Systemen aller Art ihre Prozesse und Produkte digitalisieren, war die Größe der IT-Anbieter lange Zeit ein wichtiges Kriterium. Sie wollten ihre Software möglichst von Unternehmen beziehen, denen man eine lange Lebensdauer zutraute und damit eine lange Verfügbarkeit ihrer Software. Zum Beispiel Siemens und SAP, um die zwei Unternehmen zu nennen, die mit Abstand die größten deutschen Softwareanbieter sind und auch international zu den Marktführern gehören. Zwei, die in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten durch immense Zukäufe ihre Größe immer noch weiter gesteigert haben.
Nun haben beide Konzerne ihr zentrales Marketing in die USA verlegt. In Deutschland gibt es wenig bis kein eigenes Budget für lokales und regionales Marketing mehr, und nach Entscheidungsbefugten sucht man lange und oft vergeblich. Marketing ist aber der Bereich eines Unternehmens, mit dem die Märkte, also die Kunden untersucht werden, um sie bestmöglich mit den passenden Produkten versorgen zu können. Fehlendes Marketing in Deutschland könnte also darauf hindeuten, dass den Verantwortlichen bei SAP und Siemens für Produktentwicklung und Ausrichtung des Softwareportfolios die Bedürfnisse der deutschen Industrie nicht mehr so wichtig sind. Jedenfalls nicht wichtiger als die anderer Industrien in der Welt. Vielleicht verstehen sie auch den Unterschied gar nicht.
Das Problem ist, dass die deutsche Industrie ähnlich wie die japanische in der Entwicklung und im digitalen Management ihrer mechatronischen Produkte und Prozesse sehr viel weiter ist als die der meisten anderen Länder. Daraus folgt natürlich ein anderer Bedarf an Softwarelösungen. Wird der in Zukunft befriedigt? Oder sollen sie nehmen, was sich weltweit am besten verkauft?
Die Stärken des Mittelstands
Ein mittelständisches Unternehmen, dessen Geschäftsführer noch einen direkten Bezug zu Produkt und Belegschaft hat, ist einerseits viel flexibler, wenn es um neue Geschäftsmodelle und Prozesse geht. Andererseits sucht er Ansprechpartner bei den Lieferanten wichtiger Tools wie IT und KI, die seinen besonderen Bedarf ernst nehmen. Künftig sollten sie dabei weniger auf die schiere Größe der Lieferanten – die ja eher auf eine geringe Überlebenskraft schließen lässt – schauen, als darauf, wie gut diese ihren Bedarf verstehen.
Die Zeiten werden rauer. Aber sie bieten auch die Chance einer Renaissance der kleineren und mittleren IT-Anbieter, die sich auf die Besonderheiten der Region Zentraleuropa konzentrieren. Die Industrie im deutschsprachigen Raum stellt nach wie vor eine ganze Riege von Weltmarktführern, insbesondere im B2B-Markt für Investitionsgüter, aber auch in Bereichen komplexer Konsumgüter wie weiße Ware oder Fahrzeuge. Vielleicht gesellt sich allmählich auch eine Riege von global erfolgreichen, mittelständischen IT-Anbietern dazu. Derzeit fallen hier vor allem PROCAD und CONTACT Software auf, beide mit 250 Mitarbeitern und international erfolgreich.
Typisch für das Potenhial der vom Eigentümer geführten Unternehmen: Kaeser bietet schon seit Jahren Air Utility Dienste (Foto Kaeser)
Aber weder die Fertigungsunternehmen noch die IT-Hersteller werden auf sich gestellt ihre Lösung finden. Mehr und mehr spielt die Vernetzung eine Rolle. Gemeinsam mit ähnlich strukturierten und organisierten Unternehmen und in guter Zusammenarbeit mit der regionalen industrienahen Forschung – das Beispiel ist it’s OWL in OstWestfalenLippe – wird sich der digitale Dschungel lichten und ein gangbarer Pfad schlagen lassen, an dessen Ende auch die Nachhaltigkeit erfolgreich gestemmt wird. Und produktbasierende Dienste auf Basis vernetzter, langlebiger, smarter Produkte führen zu einer neuen Art von Wertschöpfung. Um diese Richtung einzuschlagen, gibt es jetzt eine Initiative. Damit die Industrie in unseren Breiten das Herz der Wirtschaft bleibt. Lesen Sie dazu den Elevator Pitch auf meiner Homepage.