In den Engineering-Abteilungen und ganz allgemein bei den Nutzern der Industriesoftware-Systeme begann eine bis heute noch nicht beendete Suche nach neuen Methoden und Werkzeugen. Interdisziplinäre Produktentwicklung, Systems Engineering und Modellbasiertes Systems Engineering (MBSE) waren nicht nur Schlagworte, sie wurden zum Kern der industriellen Produktentwicklung. Wo Produkte nicht mehr für sich stehen, sondern als Systeme unter Systemen wirken und funktionieren müssen, sind die alten, in der Mechanik bewährten Mittel und Methoden hoffnungslos überfordert.
Industriegipfel Feldafing – System Leadership 2030
2013 organisierte ich mit Unterstützung von Siemens in deren Global Leadership Center in Feldafing am Starnberger See den „Industriegipfel Feldafing – System Leadership 2030“. Die Mitglieder des sendler\circle waren der Nukleus der Teilnehmer und Sponsoren, aber nicht die treibende Kraft. Im Mittelpunkt standen nicht mehr die Anwendungen von Standardsoftware, sondern Industrie 4.0 und das Internet der Dinge.
Zu den 13 Sponsoren gehörten accenture ebenso wie Bentley Systems, die Hannover Messe ebenso wie HP, IBM oder SAP. Auf dem Podium moderierte ich am Anfang und am Ende je ein Gespräch mit den Professoren Martin Eigner, Manfred Broy und Holger Borcherding (Lenze) zusammen mit Anton S. Huber, der bei Siemens einige Jahre zuvor mit dem Kauf von Unigraphics Solutions den Grundstein für die heutige Siemens Digital Industries Software gelegt hatte. Dazwischen bot der Event zwei Tage moderierter Gesprächsrunden, keine mit mehr als 10 Teilnehmern.
Der Tagungsband zum Industriegipfel Feldafing war das erste Buch zu Industrie 4.0
Der Tagungsband zum Industriegipfel war das erste Buch überhaupt, das unter dem Titel Industrie 4.0 erschien. Seine Übersetzung ins Chinesische machte es 2015 zum Bestseller in China, als Xi Jin Ping „Made in China 2025“ ausrief und dabei erklärte, die Richtschnur sei die deutsche Initiative Industrie 4.0. Woraufhin ich aus China bis zum Beginn der Pandemie zu Vorträgen in insgesamt 10 chinesischen Städten eingeladen wurde.
Im sendler\circle wurde Industrie 4.0 – wie eigentlich in der ganzen Industrie – zu einem Dauerthema, das im Hintergrund wirkte. Alle wussten, es war wichtig und zum Beispiel förderungswürdig. Die Plattform Industrie 4.0 wurde gegründet, Verbände, Forschung, Industrie und Politik trieben die Standardisierung industrieller Vernetzung und Datennutzung voran.
Aber es war kein Thema, das die IT-Anbieter in größerem Umfang zu neuen Entwicklungen im Rahmen ihrer Softwaresysteme führte. Schon eher geschah das in Zusammenhang mit dem tiefer liegenden Systems Engineering.
Von PLM zu SysLM?
Ich selbst hatte 2012 die Idee formuliert, dass aus PLM ein SysLM werden könnte, wenn die Industrie in ihrer Breite zur Entwicklung von vernetzten Systemen übergeht. Dann müsste ihnen eigentlich ein Datenmanagement der Systemdaten angeboten werden, das ebenfalls über den gesamten Lebenszyklus wirkt. Eben Systems Lifecycle Management.
Wobei es sogar noch wichtiger wäre, die Phase der Systemnutzung damit zu erfassen, da die Daten der Systeme ihre besondere Wirkung ja erst in der Nutzung entfalten und die Produkt-Wertschöpfung keineswegs mehr mit dem Verkauf eines Produktes abgeschlossen ist.
Stattdessen wuchs mit der Zunahme der Softwareentwicklung neben PLM die Bedeutung des Application Lifecycle Management (ALM). Aber wie in den Jahrzehnten zuvor gelang es Anbietern und Anwendern nicht, die für monolithische Systeme so typische Bruchlinie zwischen den Anwendungsbereichen zu schließen. Nach wie vor sind die Datenmanagementsysteme für PLM und ALM ebenso getrennt wie die Fachabteilungen des mechanischen Engineerings und der Softwareentwicklung.
Auch das Internet der Dinge, das ja bei der Ausrufung von Industrie 4.0 schon ein ganzes Jahrzehnt hinter sich hatte, bekam durch die neue Initiative nur sehr mäßigen Schwung. Das große Problem, das sich auftat, lag nicht im Management der Daten. Es lag an der Schwierigkeit, neue Geschäftsmodelle zu finden und zu entwickeln, die es tatsächlich erlaubten, Daten als das neue Öl der produzierenden Industrie zu nutzen. Deshalb waren die Versuche der IT-Anbieter, mit neuen Tools zur Unterstützung der Entwicklung von IoT-Produkten zu punkten, nicht sehr erfolgreich.
Aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass es vermutlich weniger am mangelnden Interesse der Industrie lag, als an den Ansätzen. Der sendler\circle war ursprünglich entstanden als Roundtable der CAD-Softwareanbieter, später der PDM- und PLM-Hersteller. Es war kein Kreis für die Industrie selbst. Alle im circle diskutierten Ansätze drehten sich immer in erster Linie um die Frage, wie die IT-Anbieter ihre Geschäfte mit der Industrie verbessern konnten.
Der Siegeszug der Container-Software auch in der Industrie
Gleichzeitig hatte sich aber über die Entwicklung von Smartphone und Cloud-Technologie in der Informatik eine neue Art von Softwareentwicklung etabliert, die langfristig die meisten vorher entstandenen Systeme zu altem Eisen machen sollte. Apps anstelle von großen, proprietären und monolithischen Systemen setzten sich in Windeseile in der Konsumwelt, auf Handys und Computern durch. Google spendierte das eigene System Kubernetes zum Handhaben von App-Clustern 2013 einer Stiftung und machte es zu offener Software. Die in der Industrie implementierte Software dagegen wirkte zunehmend weniger als wichtiger Innovationstreiber.
Die Industrie musste eine andere Richtung zu ihrer eigenen Digitalisierung einschlagen. So wie sie ihren Unternehmen organisatorisch moderne, agile, flexible und skalierbare Strukturen geben muss, so muss sie ihre Softwareentwicklung auf den Stand der modernen Technik bringen. Und das sind Container-Apps, basierend auf Linux und Kubernetes. Für die modernen Unternehmen hat Gartner vor einigen Jahren den Begriff „Composable Enterprise“ geprägt. Für die Software habe ich mich daran angelehnt mit dem Begriff „Composable Software“.
Vor eineinhalb Jahren startete ich auf diesem Portal eine kleine Hintergrundserie „Composable Software„.
Es wird (noch) nicht viel darüber diskutiert, schon gar nicht in der Industrie. Hier ist schließlich immer am wichtigsten, was bei Entwicklung, Produktion und Vermarktung für die Unternehmen herauskommt, nicht mit welchen Werkzeugen und Methoden das erreicht wurde. Im Gegenteil, diese Methoden sind ja gerade die Erfolgsgeheimnisse, die man gar nicht verraten will.
Aber es ist eine Tatsache, dass die Informatiker und Programmierer auch in der Industrie diese Art von leicht zusammensetzbarer und vielfach offener Softwarearchitektur und deren Entwicklung heute bevorzugen und sich von den nun alten Arten des Softwareengineerings verabschieden. Die Unternehmenslenker, die das nicht unterstützen und behindern, werden noch größere Personalprobleme bekommen, als sie ohnehin haben.
Am deutlichsten zeigt sich dieser Wechsel in der Industrie-Digitalisierung seit wenigen Jahren im Kernbereich der Fertigungsindustrie, in der Fertigung selbst. Statt proprietärer Steuerungen und monolithischer Großsysteme für PPS, MES, MOM, und wie sie noch alle heißen, setzen sich gerade in erstaunlichem Tempo völlig neue, containerisierte und offene Automatisierungsplattformen durch, die selbst Wettbewerber zu Partnern machen und Kunden und Drittanbietern die Weiterentwicklung durch eigene Apps erlauben. Diese Art von „Smart Automation“ könnte der Wendepunkt sein, über den die seit über einem Jahrzehnt erwartete digitale Transformation Realität wird.
Dazu gibt es (noch) keinen circle. Aber es gibt demnächst eine Seite auf meinem Nachrichtenportal namens „Smart Automation“, auf der sich die wichtigen Informationen über diese jüngste Entwicklung an zentralem Ort finden.
Die Idee des sendler\circle als Netzwerk und Gesprächsrunde hat 28 Jahre gut funktioniert. Auch Wettbewerber haben davon profitiert, miteinander über die Herausforderungen des Marktes zu sprechen und Experten aus der Forschung und aus anderen Branchen hinzuziehen. Wenn es an solcher Art von Gesprächskreisen wieder neues Interesse gibt, stelle ich gerne meine Erfahrungen als Netzwerker und Veranstaltungsorganisator zur Verfügung.