Nicht mehr die Erzeugung von CAD-Modellen, sondern das Management der Produktdaten zur Optimierung der Unternehmensprozesse rückte ins Zentrum. Auch wenn dabei der Fokus um die Jahrtausendwende noch sehr stark auf den M-CAD-Daten lag.
Für mich führte diese Entwicklung zu dem Entschluss, nicht mehr die Erzeugung von Geometriedaten ins Zentrum des circle zu stellen, sondern die digitale Unterstützung der Prozesse in der Fertigungsindustrie. Die Anbieter von AEC und GIS verließen den Kreis. Neu hinzu kamen Anbieter, deren Hauptaugenmerk auf dem Produktdatenmanagement lag. Etwa die später von Autodesk übernommene Compass Systems oder die vor einigen Jahren nach den USA verkaufte PROCAD.
Die Entwicklung verlief zweispurig. Einerseits boten bald alle CAD-Systemhersteller ihr eigenes Datenmanagement als zusätzliche Software an. Da diese Software sehr eng an das jeweilige System gebunden war und vor allem dem Engineering-Team wertvolle Hilfe leistete, sprach man hier von Team-Data-Management. Während PDM zunehmend mit Anforderungen konfrontiert wurde, die weit über das Engineering hinausgingen.
Je einfacher Konstruktionen über das 3D-Modell auch für Nichtkonstrukteure zu verstehen waren, desto größer wurde nämlich das Begehren von Marketing, Vertrieb, Presseabteilung, Service und anderen Bereichen in den Unternehmen, zentral auf solche Daten zugreifen zu können, und zwar ohne die nur von Eingeweihten handhabbare CAD-Software starten zu müssen. Der gesamte Produktlebenszyklus kam ins Blickfeld.
Die Liebensteiner Thesen zu PLM
Als im Frühjahr 2002 der CADcircle zum letzten Mal unter diesem Namen tagte, hatten kurz zuvor IBM, Ariba und SAP einen neuen Begriff kreiert: Produkt-Lebenszyklus-Management (PLM). Sie wollten damit zum Ausdruck bringen, dass die Daten aller ihrer Systeme den versprochenen Nutzen für die Kunden letztlich erst über ein zentrales Datenmanagement bringen würden.
Diese neue Richtung enthielt ein neues Versprechen der IT, aber auch eine neue Herausforderung für alle Beteiligten. Denn ausnahmslos alle CAD-Programme waren genauso wie die PDM-Software monolithische Systeme mit proprietären Datenmodellen. Kein Wunder, dass der Datenaustausch über neutrale Datenformate für geraume Zeit fast zum wichtigsten Thema wurde.
Zu einem Thema, dem übrigens Organisationen wie der prostep ivip Verein und Firmen wie die PROSTEP AG ihr Entstehen und ihre enorme Bedeutung in den kommenden Jahrzehnten verdankten. Denn lange Zeit hoffte vor allem die Automobilindustrie, mit dem STEP-Datenformat die Lösung ihrer Datenaustauschprobleme gefunden zu haben.
Obwohl das Thema PLM im Jahr 2002 schon in vieler Munde war, benannten wir den CADcircle nicht in PLMcircle um. Denn niemand konnte sagen, wie lange dieses Kürzel nun die Industrie bewegen würde. Ich wählte mit der Zustimmung der Mitglieder den neutralen Namen sendler\\circle.
Doch PLM wurde tatsächlich für etliche Jahre unser Hauptthema. Zunächst mit der wichtigen Frage, was denn unter diesem neuen Begriff zu verstehen sei. Zwei volle Jahre führten wir im circle unter Hinzuziehung externer Experten darüber eine Grundsatzdebatte. Das Ergebnis waren schließlich einige zentrale Thesen, die wir – da der einstimmige Beschluss bei unserem Meeting im Hotel Schloss Liebenstein fiel – „Liebensteiner Thesen“ nannten.
Hotel Schloss Liebenstein war unser Tagungsort im Mai 2004 und wurde zum Namensgeber der „Liebensteiner Thesen“ (Foto Christine Schulze)
Zusammen mit der Neuausrichtung des Kreises hatten wir nämlich 2002 auch die Rahmenbedingungen verändert. Wir trafen uns nicht mehr reihum bei einem der Mitgliedsunternehmen. Mit der zunehmenden Branchenkonsolidierung wurde zu schnell und zu oft aus einem einladenden Unternehmen eine nicht mehr entscheidungsfähige Unterabteilung eines anderen. Also suchte ich uns schöne Tagungshotels, die für die Teilnehmer schon bald einen sehr wichtigen Unterschied zu anderen IT-Tagungen machten.
Die Grundsatzdebatte über PLM war für die IT-Branche ungewöhnlich offen. Obwohl die Anbieter natürlich von PLM-Systemen zu sprechen begannen, konnte schließlich aus unserem Kreis heraus eine einhellige Position veröffentlicht werden, die in den beiden zentralen Thesen lautete:
- Product Lifecycle Management (PLM) ist ein Konzept, kein System und keine (in sich abgeschlossene) Lösung.
- Zur Umsetzung/Realisierung eines PLM-Konzeptes werden Lösungskomponenten benötigt. Dazu zählen CAD, CAE, CAM, VR, PDM und andere Applikationen für den Produktentstehungsprozess.
Darin steckte eine Wahrheit, die in den folgenden Jahren viele IT-Vertriebsleute und auch IT-Verantwortliche in der Industrie nicht mehr wahrhaben wollten: Es kann kein einzelnes System geben, das die Aufgabe des Produktlebenszyklus-Managements vollständig erfüllt. Aber das Versprechen war verlockend und hat die Industrie rund 20 Jahre beschäftigt.
Auch die drei Anbieter, von denen noch am ehesten denkbar gewesen wäre, dass sie zumindest relativ nahe an ein umfassendes PLM-System kommen, nämlich Dassault Systèmes, PTC und Siemens Digital Industries Software, haben sich in Produkt- und Firmennamen längst wieder von „PLM“ abgewandt. Ein vergleichbar großes Dachthema bei ihnen auszumachen, fällt schwer. Denn etwa die „digitale Transformation der Industrie“ hat zwar bei allen im Marketing sehr hohe Priorität. Aber es ist kein verkaufbares Produkt, keine Lösung.
Zusammen mit den Liebensteiner Thesen wurde diese Grafik veröffentlicht. IBM-Vertreter Dr. Thomas Wedel hatte sie beigesteuert.
Möglicherweise waren die Entdeckung des Themas PLM und die Fokussierung der großen IT-Anbieter weltweit darauf bereits der Anfang vom Ende einer Marktentwicklung, die unter IT über drei Jahrzehnte nichts anderes verstehen konnte als proprietäre, monolithische Großsysteme.
2011 verließ mit Autodesk das erste der Gründungsmitglieder den sendler\\circle, weil der Anbieter in dem Netzwerk offenbar nicht mehr genügend Mehrwert fand. In den folgenden zehn Jahren kamen die Austritte von PTC und Dassault Systèmes. Siemens Digital Industries Software war als letzter der großen Anbieter noch bis zum letzten Meeting im Jahr 2023 Mitglied.
Die Treffen wandten sich seit den Zehnerjahren zunehmend anderen Themen zu. Der sendler\\circle wurde zum Kreis, in dem von interdisziplinärer Produktentwicklung über modellbasiertes Systems Engineering bis zu Industrie 4.0 auf hohem Niveau und mit hochkarätigen Referenten besprochen wurde, was die Industrie IT-technisch antrieb. Es war der Anfang eines dritten Abschnitts in der Geschichte des sendler\\circle.