Test- und Entwicklungsumgebung für Smart Data, Digital Twin & Co in Produktentwicklung und Produktion
(Erstveröffentlichung FUTUR Ausgabe 2-2016)
Auf dem Weg zur Industrie 4.0 gilt es neue Methoden, Konzept und Technologien zu erproben und geschickt miteinander zu kombinieren. Zu diesem Zweck hat das Geschäftsfeld Virtuelle Produktentstehung die Demozelle „Smarte Fabrik 4.0“ entwickelt. Anhand einer Losgröße 1 Produktion werden die Wirkweisen, Anwendungsfälle und Potenziale von Smart Data und dem digitalen Fabrikzwilling für unsere Forschungs- und Entwicklungspartner erleb- und erforschbar. Flankiert von einem Portfolio aus strategischer Beratung sowie Methoden- und Technologieentwicklung setzt das Geschäftsfeld Virtuelle Produktentstehung mit seinen Kunden so individuelle Industrie 4.0-Lösung für Produktentwicklung und Produktion um.
Industrielle Bedarfe und Herausforderungen
Resultierend aus der Entwicklung eingebetteter Systeme wurden im Jahr 2006 erstmalig cyber-physische Systeme (CPS) beschrieben. Wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu klassischen Systemen war deren Vernetzung. Daraus entwickelten sich im weiteren Verlauf die Begriffe Internet der Dinge und Industrie 4.0 (I4.0) in Deutschland. Seit der erstmaligen Verwendung im Jahr 2011, wird der Begriff Industrie 4.0 inflationär und synonym für Neuentwicklungen in den Bereichen der vernetzten Produktion und der industriellen Informationstechnik genutzt.
Die Sammlung, Bereitstellung und Nutzung von Daten der CPS und der daraus zu gewinnenden Informationen im Umfeld der Produktentwicklung und Produktion sowie über ihren gesamten Produktlebenszyklus, sind einige der Kernaufgaben, die I4.0 leisten muss. Angefangen beim einzelnen Sensor, Anlagenzuständen und Linienauslastung bis hin zu vernetzen Werken sollen intelligente Produktionssysteme Daten und Informationen austauschen, interpretieren und in eine vernetzte, autonome Prozesslandschaft zurückfließen lassen können. Das Spektrum der Herausforderungen reicht dabei von Aspekten der Standardisierung über Themen der IT-Sicherheit bis hin zur Geschäftsmodellentwicklung sowie der Aus- und Weiterbildung.
Letztlich kann der Schritt zur Industrie 4.0 nur dann gelingen, wenn die individuellen Bedürfnisse der Unternehmen durch eine maßgeschneiderte Migrationsstrategie adressiert werden. Mit der „Demozelle Smarte Fabrik 4.0“ wurde am Fraunhofer IPK eine Fertigungsstraße geschaffen, an der sich die Aspekte der Industrie 4.0 auf vielfältige Art und Weise erproben und optimieren lassen. Ziel ist es, die informationstechnischen Wirkzusammenhänge und Potenziale von CPS und digitaler Zwillinge für die industrielle Anwendung aufzeigen zu können und gemeinsam Strategien für die Einführung zu entwickeln.
Bild 1: Die modulare Losgröße 1 Fertigungsstraße „Demozelle Smarte Fabrik 4.0“ wurde sowohl physisch als auch virtuell, in Form eines digitalen Zwillings, aufbaut. Unseren Kunden steht so eine erlebbare Umgebung zur Erprobung neuer digitaler Entwicklungs- und Produktionskonzepte zur Verfügung.
Konzept und technische Umsetzung der Demozelle Smarte Fabrik 4.0
Am Demonstrator wird ein Getränkegefäßuntersetzer hergestellt, der vom Kunden in Form, Material und Farbe frei gestaltet werden kann und direkt vor seinen Augen oder auch per Fernauftrag gefertigt wird. Das Produkt, das der Kunde mittels einer web-basierten Schnittstelle konfiguriert, kann als Einzelteil oder als Baugruppe spezifiziert werden, wodurch sich unterschiedliche Pfade durch die Produktion ergeben. Der Demonstrator besteht aus drei Modulen, die vorerst in fester, später in variabler Anordnung im Raum arrangiert und medien- und informationstechnisch miteinander verbunden sind. Ausgehend von der Produktspezifikation werden vollautomatisch Produktstruktur, Prozessplan und Steuerungsprogramme erzeugt. Diese umfassen u.a. G-Code für die Zerspanung, Bauteilnummern auf RFID-Chips, Steuerung der Spannvorrichtungen, Logistik- und Qualitätsprüfungsprozesse sowie die Ableitung des Montageplans.
Bild 2: Gezeigt wird der schematische Aufbau der Demozelle Smarte Fabrik 4.0. Diese besteht im Wesentlichen aus den drei Modulen Zerspanung, Montage und Qualitätskontrolle.
Je nach Auftrag werden die Rohteile in der Frässtation auf die gewünschte Form gebracht. Eine kamerabasierte Qualitätskontrolleinheit überprüft Produkteigenschaften wie Form, Maßhaltigkeit, Material und Farbe und weist Teile bei Nichtbestehen ggf. zurück in die Zerspanung. Gleichzeitig sollen noch tolerierte Abweichungen kontinuierlich in die automatische G-Code-Erzeugung zurückfließen, um eine ständige Verbesserung der Produktion zu erzielen. Nach der Einzelteilprüfung werden die Teile mittels autonomer Transportraupenroboter an den Montagearbeitsplatz befördert, wo sie mittels dynamisch erzeugter Montageanweisungen per Display, Head-Up-Display oder Pick-by-light vom Monteur gefügt werden. Das Montageergebnis wird abermals qualitätsgeprüft, bei Bestehen in das Endlager befördert und nach Identifizierung des Auftraggebers an der Entnahmestation übergeben. Weitere Ausbaustufen sehen die Fertigung von CPS selbst, also beispielsweise sensorbestückter und sich automatisch vernetzender Produkte, die ihre eigene Nutzung erfassen und auch über das Internet bereitstellen können, vor. Die Kommunikation zum Austausch von Prozess- und Planungsdaten erfolgt vorläufige basierend auf OPC-DA, später auf OPC-UA, mittels WLAN, RFID und Ethernet, EtherCAT und weiteren Industriebussystemen wie ProfiBus oder ProfiNet. Der Demonstrator dient aber auch als Testumgebung für neue Protokolle des Internets der Dinge, insbesondere das Constrained Application Protocol (CoAP).
Bild 3: Der digitale Zwilling lässt Realität und Virtualität verschmelzen und ist eine grundlegende Voraussetzung für die Selbstorganisation. Er schafft Transparenz innerhalb komplexer Vorgänge und ist ein unerlässliches Werkzeug für die Entwicklung von CPS.
Der digitale Zwilling als Enabler
Der digitale Zwilling, hier in Form eines kinematisierten Fabrikmodells, sorgt für eine Verschmelzung von realer Produktion und den digitalen Planungs- und Simulationswerkzeugen. Änderungen, ob im virtuellen oder physischen Raum, werden bidirektional zwischen der Demozelle und dem digitalen Zwilling synchronisiert. Autonome Vorgänge innerhalb der Demozelle können so vorab abgesichert werden und bleiben für den Menschen nachvollziehbar. Der digitale Zwilling erzeugt Informationen und Erkenntnisse (Smart Data) die in-the-loop an die Maschinen selbst, deren Betreiber, deren Nutzer wie etwa den Werker und an die Produktentwicklung geleitet werden. Zu diesem Zweck wurde eigens ein web-basiertes Smart Data Dashboard entwickelt, welchen alle relevanten Informationen visualisiert und den intuitiven Eingriff in die Produktionsprozess ermöglicht. Erst so wird es möglich robuste CPS-Verbünde zu entwickeln und zu betreiben.
Die Autoren des Beitrags
M. Eng. Thomas Damerau, geb. 1982, studierte Telematik an der Technischen Hochschule Wildau. Seit 2011 arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Geschäftsfeld Virtuelle Produktentstehung am Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK). Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen das Informationsmanagement für die Produktentstehung sowie die aktive Kundenintegration in die Produktentstehung.
Dipl.-Ing. Thomas Vorsatz, geb. 1981, studierte Maschinenbau mit Schwerpunkt Konstruktionstechnik an der Technischen Universität Berlin. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Konstrukteur im Sondermaschinenbau ist er seit 2014 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Geschäftsfeld Virtuelle Produktentstehung am Fraunhofer IPK beschäftigt. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen das Systems Engineering sowie Methoden der frühen Absicherung mittels Simulation und Erlebbarkeit durch Smart Hybrid Prototyping in der Produktentwicklung.