Ginge es nach den interessanten Themen und hochkarätigen Referenten, hätte der 59. sendler\circle nicht der letzte sein müssen. Aber sein Kern, die Branche der Anbieter von Industriesoftware, hat sich grundlegend gewandelt, und die Teilnehmerzahl des circle ist zu klein geworden für seine Fortführung. Heute wird Software für die digitale Transformation auch aus Unternehmen der Industrie selbst angeboten, die sich aber (noch) nicht als IT-Anbieter sehen. Die Protagonisten sind nicht so weit, dass sie sich zusammentun und ihre Kräfte bündeln wollen wie vor 28 Jahren die Anbieter erster Engineering Softwaresysteme.
Beim sendler\circle in Hamburg standen – wie seit seines Entstehens – Vorträge auf der Tagesordnung, die deutlich über die Frage der IT-Anwendung in der Fertigungsindustrie hinausgingen. Christian Wilkens sprach über den digitalen Lösungsbedarf der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE), Dr. Jørgen Schiønning Larsen, Gründer und CEO von PDM technology, stellte das Unternehmen und sein Bluestar PLM vor, und Prof. Dr.-Ing. Rainer Stark von der TU Berlin gab Einblicke in den Stand der Forschung zur KI im Engineering. Ich selbst erläuterte meine Position in einer kürzlich begonnenen Debatte über ERP, PLM und MES.
Die großen IT-Anbieter wie Autodesk, Dassault Systèmes, PTC, SAP und Siemens haben sich in den letzten Jahren einer nach dem anderen zurückgezogen. Man findet sie – neben eigenen Kunden-Events – noch auf Messen und einigen Großveranstaltungen. An eine gemeinsame Veranstaltung wie das „CeBIT Management-Forum 1999 des CADcircle“ zu denken (CADcircle hieß unser Kreis ursprünglich), das wäre heute nur schwer vorstellbar. (Im Bild der damalige Flyer zur Veranstaltung, die gemeinsam mit der Deutschen Messe AG ausgerichtet wurde.)
Damals moderierte der von mir engagierte Tagesschau-Sprecher Jan Hofer die Veranstaltung zum Thema „Vereinigte Staaten von Europa – Vorbild USA?“ im Tagungs-Centrum Messe in Hannover. Der Journalist und Auslandskorrespondent Dr. Dieter Kronzucker gab eine Situationsanalyse der USA und Deutschlands. Und Prof. Dr.-Ing. Michael Abramovici referierte zu „Unternehmens-IT ist Chefsache“.
Der Rückzug der IT-Anbieter in den letzten zehn Jahren war nur ein Anzeichen der großen Veränderung, die hier momentan vonstattengeht. Monolithische Standardsoftware für CAD, MES, ERP, PLM und die vielen anderen Aufgaben in der Industrie ist nicht mehr so einfach der gesetzte Standard wie zuvor. Microservice-basierte Cloud-Software hat auch in der Industrie Fuß gefasst und tritt als Ergänzung, mitunter auch als direkte Konkurrenz, auf.
Für Analysten wie Entscheidungsträger in der Industrie wird es immer schwieriger, den Überblick zu behalten. Wofür ist welche Art von Software die richtige? Wie funktionieren alte und neue Systeme miteinander? Welche Ausbildung brauchen die IT-Spezialisten künftig? Solche Fragen werden nur erst vereinzelt gestellt. Und die bisherigen „Vendoren“, wie die IT-Anbieter über die letzten Jahrzehnte etwa in der Automobilindustrie genannt wurden, sind nicht mehr unbedingt diejenigen, die die Antworten liefern können.
Dieser große Wandel, den wir gerade erleben, hat nach wie vor meine volle Aufmerksamkeit. Ich begleite ihn mit Analysen und Berichten, etwa in der Hintergrundserie zu „Composable Software“, auf meinem Nachrichtenportal www.industrie-digitalisierung.com. Und natürlich beobachte ich die Entwicklung des Marktes, ob er vielleicht in anderem Format und anderer Zusammensetzung nach einer Neuauflage eines so speziellen Netzwerks ruft, wie es der sendler\circle 28 Jahre lang war.
Über die Geschichte des sendler\circle werde ich in der nächsten Zeit einige Artikel veröffentlichen. Seine Rolle für die Entwicklung der Industrie-IT insbesondere im deutschsprachigen Raum war zu bedeutend, als dass man ihn einfach ad acta legen könnte. Für sehr viele der heute in der Industrie Verantwortlichen wird der Inhalt weitgehend Unbekanntes bieten, das vielleicht hilft, aktuelle Entwicklungen im größeren Zusammenhang zu sehen und besser zu verstehen.
Die wichtigsten Ergebnisse des letzten sendler\circle
Christian Wilkens, Gruppenleiter Digitalisierung BGE (Foto Sendler)
Christian Wilkens zu „BIM in der Endlagerung atomarer Abfälle“
Christian Wilkens ist Gruppenleiter Digitalisierung in der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE). Die BGE hat die Aufgabe, eine Endlagerung radioaktiver Abfälle möglich zu machen, die bestmögliche Sicherheit für eine Million Jahre gewährleisten soll. Aktuell müssen allerdings praktikable Lösungen gefunden und realisiert werden, die bisherige Zwischenlager und den darin zu großen Teilen in ungeklärtem Umfang und mit ungeklärten Risiken beseitigten Müll betreffen.
Das bedeutet die Rückholung enormer Mengen an radioaktivem Abfall und die Errichtung und den Betrieb von Endlagern für schwach- und mittelaktive Abfälle (SMA). Die Fertigstellung des ersten nach Atomrecht genehmigten SMA-Endlagers, des ehemaligen Eisenerzbergwerks Schacht Konrad, ist für 2029 geplant. Gleichzeitig müssen zwischenzeitlich genutzte Lager wie Gorleben oder Asse nach Atomrecht stillgelegt und der darin befindliche Müll sicher entsorgt werden.
Teilweise handelt es sich bei den Aufgaben um Projekte mit enorm langen Laufzeiten, deren Zielsetzung aufgrund weitgehend ungeklärter Datenlage kaum klar formuliert werden kann. Teilweise sind es – etwa bei der Errichtung von Endlagern oder der Entsorgung zwischengelagerten Mülls – Vorhaben, die sich in gewisser Weise mit Fabrikplanung und -bau und sogar mit industrieller Produktion vergleichen lassen. (Grafik BGE)
Aber die Verantwortlichkeiten innerhalb der BGE und in ihrem Umfeld sind, wenn überhaupt, eher mit der Architektur und dem Städtebau vergleichbar, denn es fehlen klare Strukturen und definierte Prozesse, während eine Vielzahl von Akteuren beteiligt sind, deren Beziehungen untereinander keineswegs klar sind.
Die BGE ist auf der Suche nach Lösungen, die beim Herangehen an diesen Berg von Herausforderungen helfen können. Ein BIM-System, also eine Software für Building Information Modeling oder Bauwerksinformationsmodellierung, scheint am ehesten in Frage zu kommen.
Dr. Jørgen Schiønning Larsen zu „Bluestar PLM, embedded in Microsoft Dynamics ERP, neu auf dem deutschen Markt“
Dr. Jørgen Schiønning Larsen hat vor 20 Jahren im dänischen Aalborg das Unternehmen PDM technology gegründet und ein PLM-System auf den Markt gebracht, das von Anfang an vollständig in ein ERP-System eingebettet war. Seit der Übernahme von Axapta/Navision durch Microsoft war Bluestar PLM in Microsoft eingebettet. Heute heißt die ERP-Lösung Microsoft Dynamics 365 F&SCM. Dr. Larsen leitet nach wie vor das Unternehmen.
Der deutsche Markt war – bis zur Corona-Pandemie – für ein in Microsoft-ERP eingebettetes PLM-System kaum zu erreichen. Circa 60% der Kunden konnte Bluestar PLM in den USA gewinnen, den Rest in Skandinavien. Aber seit in der Pandemie die Frage in den Vordergrund rückte, wie man das Arbeiten auch in der Industrie vom Büro-PC und den Servern der Unternehmen unabhängiger machen konnte, kamen schnell die ersten Anfragen und inzwischen auch eine ganze Reihe neuer Kunden im deutschsprachigen Markt.
Dr. Jørgen Schiønning Larsen, Gründer und CEO von PDM technology (Foto Sendler)
PDM technology ist inzwischen mit einer Niederlassung und ersten Mitarbeitern in Großwallstadt nahe Aschaffenburg vertreten und plant einen zügigen Ausbau seiner Aktivitäten in Deutschland. Niederlassungen gibt es daneben im tschechischen Pilsen und in Atlanta in den USA.
Die Vorstellung des Cloud-nativen Systems Bluestar PLM gestaltete Jørgen Schiønning in Form einer Reihe von Live-Vorführungen in der Cloud, mit denen er wichtige Funktionalitäten unter Beweis stellte. Insbesondere die Online-Demonstration einer nahtlosen Integration von CAD-Systemen wie SolidWorks, aber auch die kurzen Reaktionszeiten bei komplexeren Prozess-Simulationen waren beeindruckend. (Grafik PDM technology)
Bluestar PLM dürfte nicht nur im Rahmen des gegenwärtig wieder erwachten Interesses an Cloud-Lösungen im deutschsprachigen Raum ein bekannter Anbieter werden. Die Software bietet auch gerade im Umfeld der zunehmenden Individualisierung der Industrieprodukte in Richtung Losgröße 1 besondere Qualitäten. Die Erzeugung von hundertprozentigen Fertigungsstücklisten aus 150% Engineering Stücklisten und das dazugehörige Variantenmanagement sind Kern der Lösung.
Prof. Dr.-Ing. Rainer Stark zu „KI im Engineering“
Prof. Dr.-Ing. Rainer Stark, Direktor Fachbereich Industrielle Informationstechnik, TU Berlin (Foto Sendler)
Prof. Dr.-Ing. Rainer Stark ist an der TU Berlin Direktor des Fachbereichs Industrielle Informationstechnik. In der letzten Zeit wird – insbesondere seit der allgemeinen Verfügbarkeit von ChatGPT Ende 2022 – die Möglichkeit des Einsatzes moderner KI auch im industriellen Engineering immer stärker diskutiert, und so ist auch das Institut an der TU Berlin in verschiedenen Projekten aktiv.
Prof. Stark begann seinen Vortrag mit einer kurzen Einführung in Entwicklung und Stand der Technik der KI, einer Einordnung von ChatGPT und anderen Methoden und aktuellen Verfahren, Algorithmen- und Trainingsarten. Und er zeigte den unterschiedlichen Level an Unterstützungsbedarf, der im Engineering an die KI gerichtet wird.
Mit eine Literaturrecherche wurden am Institut Anwendungsfälle und Zielrichtungen des Einsatzes von KI untersucht. Demnach zielen im Engineering die meisten Anwendungen auf eine Vereinfachung der Modellbildung, gefolgt von Produkt- und Funktionsverbesserungen sowie Prozessverbesserungen.
In den Anwendungen spielen auch Vorhersagen, die zu Prozessverbesserungen, etwa mit Predictive Maintenance, führen, eine Rolle. Und natürlich richten sich Hoffnungen auf KI-Lösungen für Fragen wie das autonome Fahren und die Cyber-Sicherheit von Fahrzeug-Netzwerken.
Prof. Stark stellte mehrere Forschungsprojekte vor: Ein DFG-Projekt zur KI-basierten Fortschrittsmessung innerhalb der Produktentwicklung, ein Industrie-Verbundprojekt am Werner von Siemens Center zur Unterstützung bei Reparaturentscheidungen von Turbinenschaufeln, und ein EU-Projekt UPSIM (Unleash Potential in Simulation) in der Fahrzeugindustrie.
Als Limitierung des KI-Einsatzes benannte er die Verfügbarkeit ausreichend geeigneter Daten, die Tatsache, dass in der Regel nicht erkennbar ist, wie die KI zu Ergebnissen kommt, und eine fehlende Integration von KI-Expertise mit dem vorhandenen Fachwissen im Produkt- und Prozess-Engineering.
Ulrich Sendler zu „ERP, PLM, MES und die Zukunft der Industrie-IT“
In den Wochen vor dem sendler\circle hatte ich eine öffentliche Diskussion zu den Thesen bezüglich der digitalen Transformation insbesondere der Produktionsautomatisierung begonnen, die Prof. Jörg W. Fischer, Fachhochschule Karlsruhe und Steinbeis Transferzentrum RIM, in verschiedenen Artikeln formuliert hat,. Meinen Standpunkt in dieser Diskussion machte ich in einem kurzen Beitrag deutlich.
Ein Kern der Thesen von Prof. Fischer sieht die bisherige Vormachtstellung von ERP durch die zunehmende Individualisierung der Industrieprodukte bedroht. MES für solche Produkte aus dem ERP zu bedienen, wird zunehmend schwieriger. Stattdessen deutet sich an, dass PLM hier eine führende Rolle einnimmt. ERP bekommt also künftig eher die Fertigungsstückliste aus dem MES, das sich seine Daten wiederum aus dem PLM holt. Diese These halte ich für realistisch.
Weniger sinnvoll scheint mir, dass Prof. Fischer in seinen Artikeln einige neue Begriffe einführt, die seiner Ansicht nach die zukünftige IT-Landschaft in der Industrie ausmachen werden. Er spricht von einer „Digital Information Architecture“ und von xLM, womit er meiner Ansicht eher eine Neuauflage des Begriffs SysLM betreibt, den ich 2011 geprägt hatte, der sich aber in der Praxis überhaupt nicht durchsetzen konnte. Auch der „Industrial Data Science Layer“, den Prof. Fischer einführt, scheint mir die Begriffsverwirrung, die derzeit in der IT herrscht, nur zu verstärken.
Ulrich Sendler (Foto Daniel Sendler)